Auf Grund von Personen auf den Schienen kam ich mit fast 30-minütiger Verspätung in Düsseldorf an. Hektisch schoben sich die Passagiere neben meinem Sitzplatz durch die engen Gänge des Regionalexpress.
Bloß schnell raus.
Ich hingegen ließ mir viel Zeit, verstaute meine Zeitschrift in dem Weekender, legte den Trenchcoat darüber, schulterte diesen und stieg so ziemlich als letzte Person aus dem Zug.
Für Mitte September war es immer noch relativ warm, so dass ich nur ein weißes Spitzenshirt mit schwarzem Kragen, eine hellblaue Jeans und schwarze Vans trug. Meine Haare hatte ich geglättet und trug sie offen über der Schulter.
Ich ging die Treppen in die Bahnhofshalle hinunter, um mich erstmal zu orientieren. Es war schon länger her, dass ich das letzte Mal in Düsseldorf gewesen war und konnte mich nicht entscheiden, welchen Ausgang ich wählen sollte.
Innenstadt oder Worringerstraße, Konrad-Adenauer-Platz.
Kurzerhand entschied ich mich für den Ausgang zur Innenstadt.
Und je näher ich diesem kam, desto nervöser wurde ich.
Die ganze Zeit über im Zug war ich die unaufgeregteste Person auf diesem Planeten gewesen. Aber jetzt konnte ich nicht mehr zurück.
Theoretisch zumindest.
Praktisch war ich sowieso schon auf dem Weg.
Ich wollte dieser Verbindung, dieser Freundschaft zu Samu eine weitere Chance geben. Dafür, dass er über seinen Schatten gesprungen war und mir dieses Päckchen geschickt hatte. Es wäre alles andere als fair gewesen, ihn hier warten zu lassen und einfach nichts zu sagen.
Das hätte er nicht verdient; zumal ich ihn auch nicht hätte anrufen können, weil ich seine Nummer schon vor langer Zeit gelöscht hatte. Der Brief war toll und ich hatte ihn noch einige Male gelesen, bevor ich mich Samstagabend spontan dazu entschieden hatte, doch nach Düsseldorf zu fahren. Die wenigen Tage davor war ich mir nicht sicher gewesen, ob es richtig war, mich nochmal mit ihm zu treffen. Um mich selbst zu schützen. Meiner Familie, Jan und Leni hatte ich erzählt, ich würde Samantha, die gute Freundin von Robin, in Düsseldorf treffen, gemeinsam mit ihr abends um die Häuser ziehen und am nächsten Tag wiederkommen. Etwas Kreativeres war mir auf die Schnelle einfach nicht eingefallen. Das wurde von allen Beteiligten akzeptiert; was ich vor allem von Leni nicht erwartet hätte. Nur Jan bestand darauf, mich zu begleiten. Nach einer ellenlangen Diskussion über Drogenmissbrauch, Entführung und Vergewaltigung, konnte er mich dann doch gehen lassen. Alleine. Mit der Bedingung, dass ich mich zwischenzeitlich melden würde. Seine Fürsorge und Angst um mich in allen Ehren; aber das war Samu und kein Killer.
Hoffte ich.
Ich holte tief Luft, bevor ich die große, gläserne Drehtür passierte und schaute mich draußen auf dem Vorplatz nach Samu um.
Rechts.
Links.
Ein Mann mit Mütze.
Eine Frau, die aufgeregt in ihr Handy sprach und dabei mit der freien Hand wild gestikulierte.
Kinder, die den ersten Tag des Wochenendes genossen und eine Gruppe von Frauen, die schwarze Shirts mit einem weißen „Niila" trugen.
Fans. Morgens. Um die besten Plätze in der Tonhalle zu ergattern.
Zum Glück war ich nur ein einziges Mal in meinem Leben so verrückt gewesen und das war bei Sunrise Avenue im Juni.
Kein blondhaariger Mann. Kein Finne. Kein Samu.
Ich ärgerte mich, dass ich seine Nummer gelöscht hatte. Sonst wäre eine Absprache möglich gewesen – hatte er mich vielleicht in der Zwischenzeit angerufen?
Ich stellte den Weekender zwischen meine Beine und zog das Handy aus meiner Hosentasche; in der Hoffnung, Samus Nummer auf dem Display zu haben.
Vergeblich.
Möglicherweise hatte er dieses Treffen auch vergessen.
Oder mich.
Was beides irgendwie in Ordnung für mich gewesen wäre, weil ich das Kapitel „Samu Haber" auch eigentlich schon geschlossen hatte.
Trotzdem war ich da.
Weil ich immer gerne Zeit mit ihm verbracht hatte; vollkommen egal, in welcher Situation wir uns befunden hatten.
Auch, wenn er sich wie ein Affe aufgeführt hatte.
Ich steckte das Smartphone zurück in die hintere Hosentasche, warf den Weekender wieder über die Schulter, ging durch die Drehtür in die Bahnhofshalle zurück und machte mich auf den Weg zu dem Ausgang auf der anderen Seite, an dem die Taxen immer warteten. Dort war es wesentlich ruhiger und die einzigen Menschen, die man dort antraf, waren entweder beschäftigte Geschäftsmänner oder alte Frauen mit viel Reichtum – denn beide Parteien waren sich zu fein, um mit der U-Bahn und normal sterblichen Menschen zu verkehren; geschweige denn, sich einen Vierersitzplatz zu teilen.
Für diese Oberflächlichkeit hasste ich Düsseldorf.
So schön die Stadt, so verzogen arrogant waren viele ihrer Bewohner.
Am Ausgang und dem Taxistand der Worringerstraße angekommen, schaute ich mich wieder um.
Taxen.
Großraumtaxen.
Mercedes.
VW.
Aber kein Samu.
Vielleicht war ich wirklich viel zu spät dran?
Oder er hatte mich verarscht.
Saß irgendwo in einem der Taxen und machte sich einen Spaß daraus, dass ich hier her gekommen war.
Vielleicht filmte er mich auch noch.
Genervt ging ich zurück in die Halle zu einem der Fahrplanautomaten in der Nähe der Gleise, um mir die kürzeste Strecke für meinen Rückweg zu rauszusuchen.
Das war es also.
Ich war hier. Er nicht.
Gerade als ich die Verbindung von dem Automaten drucken lassen wollte, bemerkte ich die Vibration meines Smartphones in der Hosentasche. Hektisch griff ich hinein, verlor durch das Gewicht des Weekenders fast das Gleichgewicht, tippelte einige Male unsicher hin und her und sah auf das Display, als ich wieder festen Stand hatte.
Unbekannter Teilnehmer.
„Holmberg, hallo?", sagte ich.
„Haber", Samu rollte das „r" und äusperte sich, „moi."
„Hallo", gab ich verhalten von mir, obwohl ich froh war, dass er am anderen Ende der Leitung war.
„Everything ok?"
„Ja."
Es war trotzdem komisch, seine Stimme zu hören.
„Ich wanna know, wo du bist at the moment", fuhr Samu schnell fort.
Ich hörte ein Rauschen in der Verbindung.
Wohlmöglich eine Autobahn oder eine Kraftfahrstraße.
Oder war er doch hier?
Ich sah mich suchend um.
„Ich steh im Bahnhof an einem Fahrkartenschalter."
„Wo?"
„Im Bahnhof", wiederholte ich.
„Das du hast gesagt already", er lachte, „I mean welche city."
„In Düsseldorf", ließ ich ihn wissen.
„Ok. Ich bin auch here an eine Ausgang", er machte eine Kunstpause, „Worringerstraße. Hier sind taxis."
„Ok."
„Hm", brummelte Samu zustimmend, „maybe du kommst her?"
„Ok", wiederholte ich.
„Ich war gerade on die other side, weil ich nicht habe geschrieben, welche exit ich warte."
„Alles gut."
Ich war mit einem Mal unglaublich nervös und unausgeglichen.
„Ich stehe hier an die left side, wenn du kommst raus."
„Ok", sagte ich kurz angebunden und legte auf.
Er war doch da.
Er hatte mich nicht versetzt.
„Biste bald fertig da vorne oder was?", schrie mich eine männliche Stimme an, „ich hab nicht ewig Zeit."
Mit gerunzelter Stirn drehte ich mich um und blickte in das Gesicht eines älteren Herrn, Mitte 80, mit Nerdbrille.
„Das seh ich wohl", patzte ich kopfschüttelnd zurück, drückte auf „Abbruch" und ging mit einer unfassbaren Aufregung im Bauch zu dem Ausgang Worringerstraße.
Mir war übel.
Speiübel.
Samu lehnte cool an den roten Backsteinen des Bahnhofs, hatte den Fuß an die Wand gestellt und rauchte. Eine große Pilotenbrille saß auf seiner Nase, die Haare trug er nach hinten gegelt und über seinem linken Arm hing eine schwarze Lederjacke. Ich verharrte einen Moment vor der Tür stehend, weil ich nicht wusste, wie ich ihm gegenübertreten sollte.
„Mein Gott, geh doch aus dem Weg, Kindchen!", rempelte mich jemand von hinten an und flitzte an mir vorbei, „ich hab keine Zeit!"
Der alte Mann von der Fahrplanauskunft.
„Das haben wir ja gerade schon festgestellt!", brüllte ich ihm nach, „geh doch woanders hin. Arschloch!"
„Warum so aggressive?", Samu hatte offenbar zugesehen, war auf mich zugekommen und hatte die Hand auf meine Schulter gelegt.
„Alter Penner!", motzte ich nochmal hinterher und reckte die Arme in die Luft.
„Hei", Samu fasste mir an die Oberarme und drehte mich zu sich, „what's wrong?"
Ich schreckte mit dem Kopf etwas zurück, um ihm nicht zu nah zu sein und sah zuerst in seine blauen Augen, bevor ich meinen Blick über sein restliches Gesicht schweifen ließ.
Die Falten um seine Augen wurden von Wiedersehen zu Wiedersehen tiefer. Die Stirnfalten konnte man mittlerweile auch sehen, ohne, dass er kritisch die Stirn runzelte.
„So 'n alter Pisser", nörgelte ich, „der stand gerade am Automaten schon hinter mir und hat blöd rumgemeckert."
„That's why du bist so sauer?"
„Ja. Soll er früher losgehen, wenn er 'n wichtigen Termin hat, den er nicht verpassen will."
„Chill", lachte Samu und zog mich fest in seine Arme, so dass der Weekender von meiner Schulter rutschte, „I'm happy to see you."
„Ja", antwortete ich verwirrt, befreite mich aus seiner Umarmung, um die Tasche wieder auf meine Schulter zu hieven.
„Ich habe geparkt", Samu deutete auf den silbernen BMW, der etwas abseits der Taxen stand, „wir bringen deine things weg und haben eine breakfast?"
„Ok", ich zwang mich zu lächeln, „machen wir so."
„Willst du mir geben deine bag?"
Ich schüttelte den Kopf und sah zu Boden.
„Sag nicht, dass I didn't ask", grinste Samu und drückte einen Knopf in seiner Hosentasche, welcher die Scheinwerfer des BMWs mehrere Male hintereinander aufblinzeln ließ und machte sich auf den Weg zum Wagen.
Ich folgte wortlos.
Während der Fahrt hatte Samu versucht, mir ein Gespräch aufzuzwingen. Er wollte sich unterhalten, erzählte Sachen, die er während der Tour erlebt hatte, dass Sanna die Katzen zu sich genommen hatte, weil er nicht mehr so viel Zeit hatte und er sie aber mindestens einmal in der Woche besuchen würde. Ich nickte zwischenzeitlich und sah dann wieder von der Sonne geblendet aus dem Fenster.
Ich war mit der ganzen Situation völlig überfordert.
Samu hatte mich freundlich in Empfang genommen, versucht, mich davor zu bewahren, dass ich diesem irren Opa mit ausgestreckten Beinen in den Rücken sprang und ich konnte nicht mehr tun, als mich vor ihm komplett zu verschließen.
Ich konnte meine Freude über ein Wiedersehen nicht zum Ausdruck bringen.
Unerklärlich, warum.
Wir parkten auf dem kostenpflichtigen Parkplatz gegenüber des Courtyard Hotels in der Nähe der Brücke und des Hyatts. Dieser kurze Fußmarsch war in Ordnung für mich. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken.
Als würde riesiger Felsbrocken auf meiner Brust lasten.
„Sorry", Samu drehte den Schlüssel im Schloss um und schaltete den Motor aus, „for all these things which went wrong between uns."
„Hm", murmelte ich, öffnete die Beifahrertür und ging geradewegs zum Kofferraum, um meinen Weekender herauszuholen.
„No", sagte Samu, der wie ein geölter Blitz ausgestiegen sein musste, als ich den Knopf drücken wollte, „ich trage your bag."
„Das musst du nicht."
„I insist on it", er ließ die Sonnenbrille auf seinen Augen wippen, „don't try to stop me."
Ich lächelte und ging einige Schritte vor, während Samu nochmal überprüfte, ob die Türen auch wirklich geschlossen waren und kam dann hinterher.
„Wie lange bleibst du hier?", überwand ich mich, eine Unterhaltung anzufangen, als er neben mir auftauchte.
„Ich gehe mit Niila tomorrow evening. You?"
„Morgen früh nach dem Frühstück."
„Du machst nicht die Eindruck, dass du willst hier sein, even to stay here for eine night", sagte Samu deutlich, „it feels like eine businessdate und du willst leave this place sehr schnell."
„Das ist es nicht", nervös knotete ich meine Haare zusammen und legte sie nach hinten.
„Was es ist dann?"
„Alles andere, glaub ich."
Samu blieb stehen und zog die Sonnenbrille von den Augen auf die Stirn.
„Was ist alles?"
„Du, der Brief, das Paket, ich, Düsseldorf, das Hyatt, wir", zählte ich auf, „ich freu mich wirklich, dich zu sehen. Wirklich wirklich. Ich bin mit Bauchschmerzen aus diesem Bahnhof zum Parkplatz gegangen, weil ich nicht wusste, wie ich mich dir gegenüber verhalten sollte. Ich dachte, ich hätte noch einen Moment, um darüber nachzudenken, aber dann hat mich der alten Mann so aus dem Konzept gebracht, dass mir irgendwie die Zeit fehlte."
Er ließ meinen Weekender langsam auf den grauen Asphalt sinken und stellte ihn neben sich.
„Hei", sagte er, breitete seine Arme aus legte den Kopf schief, „schön, dass du bist gekommen, auch, wenn ich war eine asshole."
„Hallo", ging die kleinen Schritte auf ihn zu, schmunzelte und legte meine Arme um seinen Rücken.
Wir blieben stehen.
Einfach so.
Bis Samu ein Stück zurückwich und mich von oben ansah.
„Wo sind deine curly snakes, Medusa?"
„Die hab ich zu Hause gelassen. Hab gehört, die versteinern andere."
„Don't you think, dass die machen all around you blind?"
„Warum?"
„Weil sie sind really", Samu unterdrücke das Lachen, „really really ugly."
„Du bist ugly", schoss ich lachend zurück.
„Nicht so ugly wie du mit diese curls."
„Arsch!"
„I know", seine Sonnenbrille rutschte von der Stirn zurück auf die Nase, „I'm happy, dass du bist hier."
„Ich freu mich auch, dass ich nicht gekniffen habe", entgegnete ich, „ehrlich."
Samu schmunzelte, nahm die Arme von meinem Rücken und schulterte meinen Weekender, bevor wir geradewegs auf das dunkle Gebäude –das Hyatt Regency Hotel- am Medienhafen zugingen.
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Hayran Kurgu"[...] Wie wäre es, wenn sie immer da wäre? Wenn sie morgens neben mir aufwachen würde? Immer? Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Keine Chance. Soweit hatte ich damals nicht gedacht; soweit sollte ich jetzt nicht mal ansatzweise de...