Tell them it's me, who made you sad

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Mit dem an meine Umhängetasche gepinnten Presseausweis betrat ich eine Stunde vor Beginn der Silvesterparty die Zeche im Bochumer Süden. Das erste und letzte Mal war ich zu einer unserer Abiparties hier gewesen und hatte leider keinerlei Erinnerungen mehr an diesen Abend. Ich war zu jung und hatte zu viel Alkohol getrunken.
Dennoch war ich mir sicher, dass binnen der letzten zehn Jahre auf jeden Fall Tische, Stühle und Theken ausgewechselt worden waren. Das Interieur wirkte modern und nicht ranzig, wie für diese Art Diskothek üblich.
Es herrschte allgemeiner Ausnahmezustand. Die Angestellten trugen Bierkästen von A nach B, putzten die Stehtische ab und brachten die letzten Girlanden an den Grundpfeilern an. Der Geschäftsführer –erkannte ich an dem schwarzen Hemd- stand auf der Bühne und maßregelte jemanden von der Tontechnik. Er warf bestürzt die Arme in die Luft und fluchte laut. Ich fixierte ihn einige Momente, weil ich mir sicher war, dass er der Mann gewesen war, mit dem ich vor einigen Tagen telefoniert hatte, um mich anzukündigen. Als er mich bemerkte, setzte er ein Lächeln auf, klopfte dem kleinen Mann vom Ton auf die Schulter und kam grinsend auf mich zu.
„Frau Holmberch, richtig?", er schüttelte mir freundlich die Hand, „schön, dasse da sind. Wir ham telefoniert, glaubi. Ich bin Horst."
„Das dachte ich mir schon, Emma, hallo", lächelte ich.
„Du siehs, hier is die Hölle los. Keina macht sein Job und alle sind völlich ausm Häuschn."
„Das ist ja auch ein großer Abend, oder?"
„Wir sind routiniert", lachte er und stemmte die Hände in die breiten Hüften, „wir machn dat ja nich dat erste Jahr."
„Aber die Karten sind alle verkauft, oder?"
„Restlos", nickte er, „ja. Die Leude vom Radio werdn au kommn. Dat wird, da binni mir relativ sicha."
„Schön", ich zog meinen Mantel aus und legte ihn über meinen angewinkelten Arm, „gibt es die Möglichkeit, meine Sachen irgendwo zu lagern?"
„Geb her, nehmi mit ins Büro", meinte er und zog eine in den Farben des Lokalradios gehaltene Plastikkarte aus seiner Hosentasche, „die gibts imma nur zu Silvesta. 50 Euro Freiverzehr, ich wünsch dir viel Spass. Und wenn wat is, dann sachse einfach Bescheid, klar?"
Ich nahm die Karte dankend entgegen, gab ihm meinen Mantel und nickte.
„Et jibt sogar Livemusik, vielleicht gefällt dir dat."
„Bestimmt", schmunzelte ich und griff nach der Kamera in meiner Umhängetasche.
„Seh dich ruhich um. Zutritt hasse mit dem Pass eh überall", lachte Horst tief und nickte mir zu, bevor er in einem Gang neben der Bühne verschwand.
Die Halle füllte sich immer und immer mehr mit den Mitarbeitern vom Radio, die live von hier übertrugen. Ich machte einige Fotos für den Vorher-Nachher-Vergleich, die mir alle nicht wirklich zusagten. Irgendetwas stimmte nicht. Alles sah gestellt und unproportional aus.
Rule of thirds.
Ich hockte mich erneut hin, beachtete dieses Mal aber die Regel des Goldenen Schnitts, teilte das Motiv gedanklich in neun gleichgroße Abschnitte und fotografierte so, dass sich das Mikrophon, welches auf der Bühne stand, am rechten, äußeren Rand befand anstatt in der Mitte.
Danach setzte ich mich etwas abseits und klemmte die kleine Leselampe an meinen Notizblock, um sofort zur Stelle zu sein, wenn etwas Auffälliges passieren würde. Die Interviews mit den Gästen verschob ich auf einen späteren Zeitpunkt.


Etwa zwei Stunden nach Einlass fiel mir nichts mehr ein, was ich aufschreiben konnte. Ich hatte Fotos –unter der Beachtung des goldenen Schnitts- von den tanzenden Menschen gemacht, zwei Bier getrunken, Gäste interviewt und wartete eigentlich nur noch auf das neue Jahr.
Ein wenig wehmütig war ich schon.
Es war schön, dass ich dafür bezahlt wurde, dass ich hier saß und mir eine wirklich gute Liveband anhören durfte, die leider nur etwas mehr als 90 Minuten gespielt hatte. Dafür wurden die Hits der letzten Jahre, ebenso wie der letzten Jahrzehnte gespielt. Hinzu kam noch der Feiertagszuschlag, den Thomas mir gewährte, weil ich im Anschluss direkt in die Redaktion fahren musste und eine Frist für die morgige Ausgabe einzuhalten hatte.
Ein Abend mit meiner besten Freundin bei Bleigießen und einem Glas Weißwein wäre aber auch schön gewesen. Wir waren beide stur und hatten es bis dato nicht eingesehen, sich bei dem jeweils anderen zu melden.
Auch Jan war mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden. Ich bekam sporadische Nachrichten, in denen er mir mitteilte, wie sein Tag gewesen war.
Darauf antwortete ich nicht.
Kein einziges Mal.
So gern ich ihn hatte, so sehr störte mich seine Einstellung gegenüber meinem Bruder und dessen Sexualität.
This is the end, you know. Lady, the plans we had went all wrong. We ain't nothing but fight and shout and tears. We got to a point I can't stand. I've had it to the limit; I can't be your man. I ain't more than a minute away from walking.
We can't cry the pain away. We can't find a need to stay. I slowly realize there's nothing on our side. Out of my life, out of my mind, out of the tears, we can't deny. We need to swallow all our pride and leave this mess behind.
Out of my head, out of my bed, out of the dreams we had, they're bad. Tell them it's me, who made you sad. Tell them the fairytale gone bad.
Another night and I bleed. They all make mistakes and so did we, but we did something we can never turn back right.

Keine Silvesterparty ohne Sunrise Avenue.
Keine Silvesterparty ohne Samu.
Auf den Moment hatte ich nur gewartet.
Samus Sprechstimme hatte ich erst letzten Monat gehört.
Seine Singstimme lag viel weiter zurück.
In der Nacht nach Lenis Geburtstag vor zwei Jahren, als ich Hals über Kopf einen Flug zu ihm gebucht hatte, um mich mit ihm auszusprechen.
Schon allein der Gedanken an diese bescheuerter Gestaltungsregel aus der Fotografie hatte mich an ihn denken lassen.
Oder hatte mein Unterbewusstsein an ihn gedacht und mich dazu bewegen an die rule of thirds zu denken?
Meine Beine fingen mit jeder weiteren Silbe an zu zittern, obwohl ich saß und eigentlich fest davon überzeugt war, dass die Therapie meiner besten Freundin angeschlagen hatte.
Hatte sie nicht.
Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper.
Tränen schossen mir unkontrolliert in die Augen.
Meine Fassade, die ich mühsam aufgebaut hatte, bekam Risse und bröckelte.
Innerhalb einer Nanosekunde war ich gefühlstechnisch wieder auf dem Stand von vor zwei Jahren und sah mich heulend in Rikus Auto sitzen.
Unterbewusstsein.
Damit Samu nicht noch mehr Ärger in meinem Kopf anrichten konnte, schnappte ich mir meine Tasche und verzog mich vorerst nach draußen auf den Parkplatz, um zu rauchen.


Eine halbe Stunde und vier Zigaretten später hatte ich mich wieder beruhigt und einen Cosmopolitan mit meiner Freiverzehrkarte bezahlt. Ich saß wieder auf dem gleichen Platz und starrte in die betrunkenen Gesichter der anwesenden Gäste. Ich zückte mein Handy und verfasste eine Nachricht für die Gruppe mit den Spaniern, da ich mir sicher war, dass die Handynetze in den nächsten zwanzig Minuten bereits zusammenbrechen würden, obwohl das alte Jahr noch lange dreißig Minuten existierte. Ich wünschte ihnen einen guten Rutsch und teilte ihnen mit, dass ich nächstes Jahr im März für eine Woche vorbeikommen würde.
Mit Jan. Theoretisch.
Ich blies die Wangen wie ein Kugelfisch auf und erbarmte mich, ihn anzurufen. Dieses Ignorieren, welches ich an den Tag legte, war keine Dauerlösung. Und wenn er nicht so festgefahren wäre, wäre er mein perfektes Gegenstück.
Direkt beim ersten Klingeln nahm er ab und murmelte irgendetwas unverständliches in die Sprechmuschel.
„Geht es dir gut?"
„Jap."
„Ich weiß, dass wir Silvester haben, aber ich wollte kurz mit dir reden, bevor das alte Jahr sich verabschiedet", sagte ich lieb und hielt mir das andere Ohr zu, um ihn besser verstehen zu können, „blabla, du weißt, dass man alte Sachen nicht mit sich rumtragen soll, weil das Unglück bringt."
„Ich wollte dich auch deswegen anrufen. Das ist alles komisch gelaufen."
„Ja."
„Ich möchte auch eigentlich nicht mehr über das reden, was zwischen uns steht."
„Ok?", das widersprach sich in meinen Augen. Er wollte reden, weil er der gleichen Ansicht war, dass alte Angelegenheiten nicht mit in das neue Jahr genommen werden sollten, wollte darüber aber nicht reden?
„Wir wissen beide, was es ist", sagte er deutlich, „und ich werde dich nicht zu dem Kontaktabbruch bewegen können, weil er dein Bruder ist."
„Richtig", nickte ich zustimmend, obwohl er mich nicht sehen konnte.
„Du kannst nichts an meiner Meinung dazu ändern, Emma. Aber vielleicht klappt das trotzdem irgendwie."
Ich grübelte und spann die Beziehung mit Jan im Kopf weiter.
Einige Jahre weiter.
Er schien Kinder zu wollen. Ich war dagegen. Schon immer. Allein aus Angst, dass ich keine gute Mutter sein könnte.
Aber wenn es keine Kinder gab, gab es auch keinen Konflikt, den Jan mit sich ausmachen musste.
Aber vielleicht gab es auch dann keinen Jan an meiner Seite.
„Bist du noch da?", fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit und riss mich aus meinem Gedankenkonstrukt.
„Hm", brummelte ich nachdenklich.
„Vielleicht können wir uns nächstes Jahr nochmal treffen und darüber reden, wie das mit uns weiter funktioniert oder nicht", lachte er über seinen eigenen Witz, „wenn du das möchtest."
Verdammt.
Ich hatte ihn gern.
Sehr.
Und obwohl ich Jan im Schwimmbad eigentlich nur geküsst hatte, weil Samu mich beobachtet hatte und ich ihm zeigen wollte, dass ich ihn nicht brauchen würde, hatte ich mich doch irgendwie verknallt.
„Ja", piepste ich und räusperte mich augenblicklich, „bis nächstes Jahr dann."
„Bis nächstes Jahr."


Um zehn Minuten vor Mitternacht stellte sich einer der Radiomoderatoren auf die Bühne und erzählte Anekdoten über das vergangene Jahr. Die anwesenden Gäste stürmten bereits währenddessen zur Garderobe, holten panisch ihre Winterjacken ab und erstanden Raketen bei einem Mitarbeiter der Diskothek, deren Erlös komplett gespendet wurde. Ich saß immer noch an dem kleinen Tisch in der Ecke, beobachtete das wilde Treiben aus sicherer Distanz und war mir sicher, dass ich auch derartig aufgescheucht umherlaufen würde, wenn ich den ganzen Abend Alkohol in mich hineingeschüttet hätte.
Als der Moderator die letzten zwei Minute ansagte, begab ich mich mit der Kamera bewaffnet bereits zum Eingang und lehnte mich an die alte Fassade mit Blick auf den riesigen Parkplatz, welcher nahezu leer war. Die meisten Leute hatten sich für eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln entschieden. Durchaus keine schlechte Idee bei den Mengen an Alkohol, die heute Abend geflossen war.
Die Securitymänner neben mir sahen synchron auf ihre Armbanduhren und begannen einen Countdown zuzählen, als die letzten zehn Sekunden des Jahres angebrochen waren. Als hätte es nicht gereicht, dass einige Silvestersaboteure schon vor Mitternacht mit dem Vernichten der Feuerwerkskörper begonnen hatten, drang mit dem symbolisch letzten Glockenschlag ein ohrenbetäubender Lärm an meinen Hörnerv. Die aus der Diskothek strömenden Menschen fielen sich grölend in die Arme, küssten sich ausgiebig, zündeten Wunderkerzen an, machten Selfies und schickten die Raketen gen Himmel. Ich hingegen lief durch die Menge und forderte die nicht ganz so betrunkenen Mensch auf, für die Zeitung Portrait zu stehen.
Rule of thirds.
Anschließend schoss ich noch einige Momentaufnahmen, um hinterher eine Auswahl haben zu können.
Wieder im Inneren angekommen interviewte ich den Besitzer ein weiteres Mal und fragte ihn nach seinem Gesamteindruck des Abends. Danach ließ ich mir meine Jacke geben und fuhr langsam in einem von mir bestellten Taxi durch die mit Menschen übersäten Straßen die wenigen Kilometer in die Redaktion.


Zum ersten Mal in meinem Leben kochte ich Kaffee, während der Computer hochfuhr. Obwohl es noch relativ früh war, hätte ich nichts gegen eine Mütze Schlaf einzuwenden gehabt. Ich hatte nicht wirklich viel getan, aber den ganzen Abend rumsitzen und nichts tun schlauchte mich ungemein.
Das koffeinhaltige Heißgetränk schmeckte furchtbar bitter, hielt mich jedoch nicht davon ab, sofort mit dem Schreiben des Artikels zu beginnen. Wie von selbst tippte ich die ersten 300 Wörter und holte erst den Notizblock aus meiner Tasche, als ich das Smartphone darin einige Male hintereinander klingeln hörte. Das typische Neujahrs-Funkloch war behoben und ich bekam jetzt, fast zweieinhalb Stunden später, die ersten Glückwünsche für das neue Jahr. Unter den Nachrichten waren neben den von diversen Arbeitskollegen, meinen Eltern, meinem Bruder und seinem Mann auch unzählige der Spanier, die sich über meinen Besuch im März freuten.
Selbst Marius hatte sich gemeldet.
Und Jan hatte mehrmals versucht, mich anzurufen.
Von Leni keine Spur.
Meine beste Freundin hielt das offenbar nicht für nötig.
Ich wollte das neue Jahr nicht mit Hass und Traurigkeit beginnen. Also sprang ich über meinen Schatten und schrieb ihr, dass ich in der Redaktion sei, weil ich gearbeitet habe und sie hoffentlich gut in das neue Jahr gestartet sei.
Mehr nicht.
Mit innerer Gemütlichkeit schrieb ich den Artikel zügig zu Ende, übertrug die Fotos von der Kamera auf den Computer, bearbeitete diese –wenn nötig- nach und hing sie an die Datei, die ich Thomas schicken wollte. Ich fragte mich, wie er es schaffen wollte, den Artikel noch in die Neujahrsausgabe zu bringen. Aber das war nicht meine Sorge. Ich hatte die Deadline sogar um eine Stunde unterschritten und somit alles richtig gemacht.
Nachdem ich meine Tasse in die Küche gebracht hatte, zog ich die weißen Lamellenvorhänge vor die Fenster, formatierte meinen Computer und bearbeitete E-Mails über das Handy.
Nach dem Anruf bei Jan war es mir besser gegangen. Ich schob den Gefühlsausbruch bei Samus Durchbruch-Song in Deutschland auf eine Laune, entstanden durch den Jahreswechsel, bei dem man allgemein immer etwas emotional und sentimental ist.
Erst als ich den ersten regulären Nachtexpress gegen 05.00 Uhr auf der Straße vorbeirauschen hörte, packte ich meine Sachen zusammen und verließ zufrieden und entspannt das Büro. Vor dem Eingang kickte ich die hölzernen Raketenstäbe zur Seite, um nicht darüber zu stolpern.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt