Mit der schwarzen Sporttasche über der Schulter verließ ich den Fahrstuhl des Courtyard Hotels am Bochumer Stadtpark. Ich ging über den Flur in der zweiten Etage, öffnete die letzte Tür auf der rechten Seite des Ganges mit Hilfe der Schlüsselkarte und ließ mich sofort rücklings auf das frisch gemachte Bett fallen. Dieses ständige Hin und Her war nervig. Ich hatte Urlaub und wollte nichts lieber als in meinem Haus in Munkkiniemi sitzen und die Seele endlich baumeln lassen.
Die Jungs und ich hatten eine erfolgreiche Tournee gespielt. Da ich die Promotion bisher immer allein gemacht hatte, war ich dazu auserkoren worden, wenige Wochen nach Tourende mit Mikko quer durch die Bundesrepublik reisen. Berlin, Hamburg, Bremen, Hannover, Essen und als letzte Station Bochum.
ContraPromotion hatte hier ihren Hauptsitz.
Die Jungs waren der Wahnsinn und hatten immer an uns geglaubt.
Dennoch.
Ich hasste diese Stadt. Abgrundtief.
Am liebsten hätte ich einen weiten Bogen um diesen Ort gemacht. Aber gerade weil wir zu Beginn unserer Karriere viel hier gewesen waren, war Mikko und auch Jukka der Meinung, dass wir das Interview bei einer Zeitung unmöglich ablehnen konnten.
Emma wohnte vermutlich immer noch hier.
Das war der eigentliche Grund.
Wir waren vor etwas mehr als zwei Jahren hässlich auseinander gegangen. Ich empfand sehr viel für sie, konnte mich letzten Endes auf Grund ihrer nervenden Eigenarten aber nicht dazu durchringen, eine richtige Beziehung mit ihr anzufangen.
Nachdem ich sie an dem Abend im September rausgeschmissen hatte, blieb ich noch lange hinter der geschlossenen Tür sitzen. Riku war damals zu mir gekommen, während Emma bei ihm zu Hause auf der Couch geschlafen hatte, um mich zur Vernunft zu bringen.
Ich sollte endlich begreifen, dass dieser ständige Machtkampf zu nichts führen würde und dass man an allem arbeiten könnte.
Sie und auch ich.
Ich blieb stur und verfiel ziemlich schnell in mein altes Verhaltensmuster, welches ich als 20-Jähriger an den Tag gelegt hatte.
Keine Frau, die auch nur annährend attraktiv gewesen war, war vor mir sicher. Ich vögelte mich ohne Rücksicht auf Verluste durch die Betten Helsinkis. So wohl vor, als auch nachdem wir die Clubtour in Deutschland abgeschlossen hatten.
Die Regeln waren einfach: Sex und tschüss, bis nie.
Kein Austausch von Handynummern.
Nichts.
Riku drängte mich immer wieder, mich bei Emma zu melden. Letztendlich hatte ich vier Wochen nach ihrer Abreise und einem weiteren Matratzenabenteuer, versucht, sie anzurufen. Doch sie war nicht rangegangen.
Meine Gefühle für sie hatten sich grundlegend geändert.
Dennoch bedeutete sie mir etwas und war mir als Person wichtig gewesen.
Müde wälzte ich mich auf dem Bett von links nach rechts und bemerkte einen Gegenstand in meiner hinteren Hosentasche. Als ich auf der Seite lag, zupfte ich Emmas weißgoldene Kette mit dem Kofferanhänger heraus.
Ich hätte sie schon längst entsorgen oder wenigstens in irgendeiner meiner Schubladen stecken können.
Getan hatte ich das nie, weil sie eine Art Glücksbringer geworden war.
In den letzten zwei Jahren hatte alles gut, wenn nicht sogar sehr gut, funktioniert.
Den Sommer nach der Clubtour hatten wir größtenteils mit Jukka im Studio verbracht. Die Songs waren alle gut. Traurig gut und teilweise radiotauglicher als noch zu Beginn unserer Karriere. Darauf folgte die Tournee in diesem Jahr durch Finnland, Deutschland, die Schweiz und Österreich.
„Samu?", unser Künstlerbetreuer Robin klopfte zaghaft an die halbgeschlossene Tür.
„Was?", meinte ich und drehte mich in Richtung Tür.
„In 40 Minuten ist die Frau von der Zeitung da."
„What's the problem?"
„Willst du da so hingehen?"
„Sure", entgegnete ich sicher und setzte mich in den Schneidersitz, „warum nicht?"
„Die wird Fotos machen wollen. Du siehst aus wie ein Bobtail."
„Fuck you", lachte ich und ließ mich mit ausgebreiteten Armen wieder auf die weiche Matratze fallen.
„Emma!", mein Chef Thomas preschte in das Büro und warf mir eine Mappe auf den Schreibtisch, „Interview!"
Ich blickte vom Monitor auf und zog die Augenbrauen hoch.
„Für was?"
„Für Sandra. Die ist bei ihrer kranken Schwiegermutter."
„Und?"
„Herr Gott. Irgendeine Person auf diesem Planten muss das Interview mit den Finnen machen."
„Ich bestimmt nicht", lachte ich abwertend, „es hat 'n guten Grund, warum ich mich dafür nicht gemeldet hab."
„Ich schätze deine Arbeit sehr", er beugte mich zu mir herunter, „aber mein Wort ist Gesetz."
„Und das Gesetz hat Sandra dafür auserkoren", schmunzelte ich.
„Emma", Thomas nahm die Brille von der Nase und strich sich angespannt durch das Gesicht.
„Ich will das wirklich nicht machen."
„Nicht mal für mehr Geld?", horchte er nach, „oder Urlaubstage?"
Interessiert rollte ich mit dem Schreibtischstuhl zur Seite.
Urlaubstage konnte ich gebrauchen.
Immer.
„Wie viele? 100?"
„Werd nicht albern."
„Dann nicht, Thomas."
„Dann tut es mir leid, dass ich dich leider nicht weiter beschäftigen kann", nuschelte er und setzte die eckige Brille wieder zurück auf die Nase.
„Ich hab dir gesagt, dass die Zusammenarbeit bei Universal nicht geklappt hat und dass ich dafür lieber irgendwas anderes mache. Giraffen im Zoo interviewen oder sowas."
„Und wie oft habe ich schon gesagt, dass ich Frauke nur äußerst ungern zu einem Interview mit einem Prominenten schicken möchte?"
Ich überlegte und tippte mir mit dem Zeigefinger nachdenklich an den Mund.
„An die fünf Mal?"
„Sechs", stellte er richtig, „mit jetzt gerade ganze sechs Mal."
„Warum willst du das eigentlich nicht? Die ist doch immer lieb und freundlich."
„Emma", er massierte angestrengt seine Schläfen, „Frauke behandelte alle wie ihre Enkelkinder."
„Das ist doch nett", ich pustete eine der gecurlten Haarsträhnen aus meinem Gesicht, „da freut sich der alte Samu Haber bestimmt."
Thomas atmete tief ein und aus, bevor er mein Büro mit erhobenem Zeigefinger wieder verließ.
„Samu!", Robin hämmerte gegen die Zimmertür.
Wütend ließ ich den Tiegel Haargel neben das Waschbecken fallen und öffnete mit angewinkeltem Ellenbogen die Tür.
„Was?"
„Sie ist da", sagte er und tippte auf seine Armbanduhr, „mach hin."
„Chill your life", meinte ich und verschwand wieder im Badezimmer, um mir nochmal durch die Haare zu fahren.
„Das willst du anziehen?"
„Shut the fuck up, Rob. Ich habe Urlaub eigentlich und keine Lust noch zu reden über diese fuck here."
„Wow. Warum so wütend?"
„Weil du machst stress the whole time. Sag die Frau, ich komme in eine paar minutes."
„Ich denke, dass solltest du ihr selber sagen", teilte er unsicher mit, „sie wartet auf dem Flur."
„Dann bring her runter in eine restaurant, order eine coffee and talk to her."
„Sie hat nicht so viel Lust auf einen Plausch, denke ich", entgegnete Robin leicht verstört.
„Stop kidding me, Robin", matt blies ich Luft aus, „ist fucking egal, was du machst mit ihr. But I need a minute, ok?"
„Ok, ich geb das so weiter."
„Thanks a lot!", rief ich ironisch und trat die Badezimmertür mit dem Fuß zu, ehe ich die letzten Strähnen zurecht zupfte.
Nachdem Robin mich in die Piano Bar des Hotels gebracht hatte und ich versicherte, dass ich alleine klar käme, bestellte ich mir einen Kakao, einen schwarzen Kaffee für Herrn Samu Haber und blätterte durch die Mappe, die mir mein Chefredakteur mitgegeben hatte.
Nachdem Thomas mein Büro verlassen hatte, kam er wenige Minuten später zurück, um mir das Diktiergerät und die 400 Euro teure Kamera zu bringen.
„Ich diskutier nicht mit dir. Mach 'n geiles Interview und sei professionell", hatte er gesagt.
Das war definitiv leichter gesagt als getan.
Er kannte den Hintergrund für mein Ablehnen nicht.
Was hätte ich sagen sollen?
„Oh, besser nicht. Ich hab vor zwei Jahren mal mit dem geschlafen und leider war das Drumherum irgendwie nicht ausreichend für was Richtiges."?
Ich schaute nervös auf die Uhr meines Handys.
Einmal in seinem Leben sollte Samu pünktlich sein, damit ich das Interview für die nächste Ausgabe so schnell wie möglich abtippen konnte, um ihn dann wieder aus meinem Leben verbannen zu können.
Nur ein einziges Mal.
Mehr wollte ich gar nicht.
In meinem Gehirn spielten sich wilde Szenarien über unser Zusammentreffen ab.
Von freundschaftlich um den Hals fallen bis hin zu bösen Hasstiraden war alles dabei.
Ich trank einen Schluck und blätterte durch die Akte, die vor mir auf dem Tisch lag. Mir fiel auf, dass sich die Fragen in den Interviews der letzten Jahre immer und immer wieder wiederholt hatten. Selbstverständlich gab es die ein oder andere Abweichung, aber vom Prinzip her hatte Sandra relativ wenig bis gar nichts verändert.
„Stimmt es, dass Sie mal eine Sauna im Studio hatten?"
„Was ist ihr Lieblingsessen?"
„Was sind Ihre Pläne für das nächste Jahr?"
„Was machen Sie nach einem Tournee-Wochenende zuerst, wenn sie nach Hause kommen?"
„Was ist ihr Lieblingsessen?"
„Stimmt es, dass Sie mal eine Sauna im Studio hatten?"
„Was sind Ihre Pläne für das nächste Jahr?"Alles das konnte ich nach den Monaten bei Universal kinderleicht beantworten. Dafür musste man jemanden nicht extra aus Finnland einfliegen lassen. Selbst Fans wussten die Antworten darauf. Aus alten Interviews.
Am liebsten hätte ich einige der Fragen durch andere ersetzt, aber in diesem Fall wollte ich das Ganze nur schnell über die Bühne und vor allem hinter mich bringen.
„Sorry, I'm late", riss Samu mich aus meinen Gedanken, als er den Stuhl vom Tisch abrückte und Platz nahm.
Ich hob den Kopf.
Unsere Blicke trafen sich.
Ich blinzelte einige Male unkontrolliert und wurde innerlich unruhig.
Er hingegen wirkte zuerst total entspannt, weil er mich wohl nicht sofort wiedererkannt hatte.
„You?"
Jetzt schon.
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
„Hi", versuchte ich so gleichgültig wie möglich zu sagen, während mein Bauch weiterhin randalierte.
„What are y-o-u doing here?", sein Blick war entsetzt.
„Ich mach das Interview mit dir."
„You're kidding me", er verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die langen Beine in meine Richtung. Dabei streifte er unsanft meine Stiefel, entschuldigte sich aber nicht für diesen Tritt.
Ich musterte ihn.
Sein hellblaues Jeanshemd warf Falten, das weiße Muskelshirt darunter knitterte ebenfalls.
Samu war wahnsinnig alt geworden.
Die Augenringe hingen ihm wie Schluchten in seinem Gesicht, als hätte er einige Tage hintereinander nicht richtig geschlafen. Die Krähenfüße rund um seine Augen taten ihm ebenfalls keinen großen Gefallen und ließen seinen Teint unglaublich fahl wirken. Von seinen nach hinten gegelten Haaren ganz abgesehen. Am liebsten hätte ich ihm Geld gegeben, damit er sich in der Drogerie eine Haarkur besorgen konnte.
„Können wir das einfach schnell hinter uns bringen? Ich hab da auch keine Lust drauf."
Er nickte gezwungenermaßen.
Ich stellte ihm den Kaffee vor die Nase, stand mit der Kamera in der Hand auf und hockte mich vor ihn. Das Foto sollte zufällig entstanden wirken.
„Du hast falsche focus", unverschämt stemmte Samu die Ellenbogen rechts und links von dem Kaffee auf die braune Holztischplatte, „du musst machen die rule of thirds, sonst ist die picture nicht stimmig."
„Guck bitte einfach auf deine Kaffeetasse, ok?"
„Ist deine erste picture ever, oder?"
„Nein."
„Not? Seems like. Seems like you're very unprofessional."
Entnervt schoss ich mehrere Fotos aus verschiedenen Perspektiven, ohne weiter auf seine Sticheleien einzugehen und setzte mich wieder gegenüber von ihm hin.
Seine Beine waren schon wieder in meine Richtung gestreckt.
Ich räusperte mich, las die ersten Frage vor mich hin und drückte anschließend den Aufnahmeknopf des Diktiergeräts.
„English or german?"
„Zeigst du mir die pictures?", stellte er eine Gegenfrage.
„Mikko bekommt sie und kann sie dann abnicken", sagte ich gefrustet, „english or german?"
„Show me the pictures", Samu setzte sich gerade hin und machte eine fordernde Handbewegung.
„Du siehst auf allen Bildern gleich schlecht aus, da lohnt sich das Gucken nicht."
„Show me", verlangte er ernst.
Laut einatmend deutete ich auf die Kamera, während ich lustlos durch die wenigen Seiten der Mappe blätterte, um Samu nicht an die Gurgel gehen zu müssen.
Für mich war dieses Interview jetzt schon zu lang.
Innerhalb der letzten Minuten hätte ich locker drei der zehn Fragen geschafft.
Aber nein.
Herr Haber musste sich von seinem miserablen äußeren Erscheinungsbild höchstpersönlich überzeugen.
„You're unable", merkte er nüchtern an.
„Du auch", lächelte ich gekünstelt, „english or german?"
Samu runzelte die Stirn.
„Deutsch. Wir sind ja hier in Deutschland und ich muss machen besser sowieso."
„Wunderbar. Was sind deine Pläne für das nächste Jahr?", begann ich ohne den Blick von dem Blatt vor mir abzuwenden.
Am liebsten wäre ich in dieser Mappe verschwunden wie die Protagonisten von Mary Poppins in dem Straßenkreidebild von Schornsteinfeger Bert.
„Ich habe welche", er schlürfte an dem Kaffeebecher.
„Welche?", fragte ich wieder.
„Einige."
Ich pustete die Wangen auf.
„Was machst du, wenn du nach einem Tourwochenende nach Hause kommst?", las ich eine andere Frage vor.
„Viel."
„Könntest du deine Antworten noch kürzer formulieren?"
„Ich kann nicken, if you want", eingeschnappt ließ er die Tasse auf den Tisch knallen.
„Samu, bitte", nörgelte ich.
„Emma, bitte", ahmte er mich nach.
„Ich musste das Interview machen. Von selbst hätte ich mich dafür nie gemeldet."
„Really not? Nicht, dass du wieder fliegst mir hinterher nach Finnland", patzte er.
„Du denkst auch, du wärst 'n geiler Typ, oder?"
„Look at me. Ich weiß, was ich kann sagen."
„Du bist 'n Angeber, ekelhaft. Du wärst der letzte Mensch, dem ich irgendwohin folgen würde. Ich leg keinen Wert mehr auf deine Gesellschaft."
„Oh", er tippelte mit den Fingern auf dem Henkel der Tasse herum und sah mich an, „du legst also keine Wert auf meine Gesellschaft, Miss. Warum du bist hier dann?"
„Meine Kollegen sind alle beschäftigt. Sonst säße ich nicht mit dir in diesem Hotel."
„Aha ok."
„Kriegen wir das jetzt irgendwie hin?"
„No, I don't wanna. Du hast gefailed."
„Was?", ich verstand nicht.
„Du hast gefailed. You are unable to be a journalist. Ask die falsche Fragen and annoy your klients."
Ich machte Zischlaute.
„Now again."
„Können wir das professionell hinter uns bringen? Mir ist das auch unangenehm", ich versuchte, ihn zu besänftigen, weil ich keine Ahnung hatte, was Thomas mit mir anstellen würde, würde ich dieses Interview in den Sand setzen.
„Ich bin, but you. Look at your pictures. I'm looking like an old man."
„Das liegt daran, dass du über 40 bist, Samu."
„Haha, Emma."
„Können wir jetzt weitermachen?"
„No", er stand auf, rückte den Stuhl vom Tisch ab und klopfte drei Mal auf diesen, „have a nice day!"
Ich schaute ihm kopfschüttelnd hinterher, ehe er sich vor der großen Doppeltür der Bar erneut zu mir umdrehte.
„Übrigens deine hair is terrible", rief er lachend, „you're looking like Medusa's sister!"
„Du kannst mich mal", schrie ich zurück, küsste meinen Mittelfinger und streckte ihn Samu entgegen.
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Just friends?
Hayran Kurgu"[...] Wie wäre es, wenn sie immer da wäre? Wenn sie morgens neben mir aufwachen würde? Immer? Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Keine Chance. Soweit hatte ich damals nicht gedacht; soweit sollte ich jetzt nicht mal ansatzweise de...