Oder?

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„Johannisbeere?", rief Jan aus der Küche heraus.
„Ja!", müde ließ ich mich auf die Couch sinken und legte die Füße auf den Wohnzimmertisch vor mir.
Jan brachte Johannisbeerschorle in Weingläsern aus der Küche mit und reichte mir eines an, bevor er sich neben mich setzte und den Arm um mich legte.
„Wenn Leni weiterhin so rumjammert, wird das mit der Hochzeit im Dezember nichts", sagte er leise.
Ich nickte und lächelte.
Meine beste Freundin hatte sich während des Abendessens wie eine Furie benommen.
Dass sie mich vor Aufregung auf die Hochzeit schief von der Seite anmachte, war für mich in Ordnung. Aber Marius litt unter ihren ständigen Launen und ihrer Unentschlossenheit. Langsam aber sicher musste sie sich für Buffet, Blumen und Sitzordnung entscheiden. Fast wöchentlich warf sie alles um. Das nervte nicht nur mich, sondern auch Marius so sehr, dass ihm beim Essen der Kragen geplatzt war und die Beiden sich bis auf das Äußerste beschimpft hatten. Jan und ich hielten uns im Hintergrund und hatten uns irgendwann an das Abräumen des Tisches gemacht, um uns der unangenehmen Situation zu entziehen. Kurz darauf waren die beiden gegangen und nahmen –zum Glück- ihre dicke Luft mit. Man hörte sie draußen streiten, als ich die Tür ins Schloss drückte.
„Ich bin froh, dass es bisher bei dem burgundfarbenenen Klamotten geblieben ist", meinte Jan und küsste meine Schläfe, „ich wüsste nicht, was ich ihr gegen den Kopf werfen würde, wenn sie blau doch schöner finden würde."
„Beschimpfungen, meinst du?"
„Nein", Jan schüttelte energisch den Kopf, „Gegenstände. Ich würde Gegenstände werfen."
Ich lachte hell auf, schmiegte mich an seine Brust und legte die Hand darauf ab.
Solche Abende gab es in letzter Zeit immer öfter.
Und ich genoss sie.
Jetzt, wo der Herbst langsam aber sicher ins Land zog und man bei blödem Wetter kein schlechtes Gewissen hatte, auch mal zu Hause zu bleiben und einen Abend vor dem Fernseher oder eben mit guten Freunden zu verbringen. Auch, dass Jan wieder öfter bei mir schlief, störte mich nicht mehr wie noch vor einigen Monaten, als ich mich aktiv damit beschäftigte, alles dafür zu tun, um diese Beziehung zu zerstören. Indem ich ihn anlog, was meinen Aufenthaltsort anging oder mit anderen Männern auf genau dieser Couch, auf der wir gerade saßen, schlief.
Mit einem einzigen anderen Mann.
Samu.
Noch in derselben Nacht hatte ich alles, was mich irgendwie auch nur im Geringsten an ihn erinnerte zur Mülltonne gebracht. Alle CDs, die ich mir für das Praktikum gekauft hatte, sein Hemd und die Fliege von Daniels Hochzeit, den Post-it mit der sehr persönlichen Nachricht. Das Video, das er mir geschickt hatte, als ich in Antofagasta war, hatte ich ebenfalls von meiner Festplatte gelöscht. Das alles hatte für mich nach Samus Auftritt keinerlei Wert mehr. Er hatte sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt und war auf meinen Gefühlen herumgestampft wie die Frau in der Antistax-Werbung auf Trauben. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, machte er sich lustig über meine Gefühle und flirtete vor meinen Augen mit einer anderen Emma, die er auch –zufällig natürlich- „Emmi" nannte. Und dann erfuhr ich von den Titelstorys auf verschiedenen Hochglanzmagazinen für Frauen. Danach war der Zug für ihn endgültig abgefahren.
Ende mit Vivianne – Wer ist die Neue?
Neues Traumpaar!
Wie tickt Samu Habers neue Freundin?
Irgendwann waren sie unvorsichtig gewesen und hatten sich in der Öffentlichkeit geküsst. Leider zum falschen Zeitpunkt. Samu gab nichts auf die Presse. Alle konnten schreiben, was sie wollte. Wenn sich niemand bemühte, gab es auch keine weiteren Schlagzeilen. So war das Foto von mir und Samu beim Shoppen in Düsseldorf schneller verschwunden, als ich gedacht hatte. Das Foto vom Eislaufen hatte es erst gar nicht weiter als auf die sozialen Netzwerke geschafft.
Ich hätte die Artikel gar nicht gelesen, wenn meine beste Freundin mich nicht während eines Frühstücks am Samstagmorgen in unserem Café des Vertrauens darauf aufmerksam gemacht hätte.
Sie hatte gefragt, ob ich davon gewusst hatte.
Meine Antwort war ehrlich gewesen.
Nein.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er in seinem Privatleben trieb. Ich war kein Teil mehr davon und wollte auch keiner sein, weil Samu ein Idiot war.
Gewiss hatte ich in der Nacht, als ich von Oberhausen nach Hause gefahren war, auch einige Tränen vergossen. Aus Wut, Trauer und mit Sicherheit auch aus Verzweiflung darüber, dass Samu sich so über meinen Seelenstriptease lustig gemacht hatte.
Dadurch, dass meine Wohnung frei von allem war, was mich auch nur im Geringsten an Samu erinnern könnte, verdrängte ich dieses Bauchkribbeln, was ich ihm gegenüber empfunden hatte, sehr erfolgreich und auch ziemlich schnell.
Ich ging ganz normal arbeiten, machte ganz normal meinen Haushalt und traf mich in meiner Freizeit ganz normal mit den Menschen, die mir wichtig waren und denen ich auch etwas bedeutete. Ich hatte schon oft diesen Absprung von Samu gewagt und war immer wieder gescheitert. Doch dieses Mal fühlte er sich endgültiger an als meine anderen Versuche zuvor. Und ich lebte gut damit. Die Beziehung zu Jan tat mir gut und wurde von Tag zu Tag solider und inniger. Und ich liebte ihn. Anders, als ich Samu geliebt hatte. Das Gefühl war nicht miteinander zu vergleichen.
Und Jan verstand sich wunderbar mit allen. Nach dem wirklich holperigen Start vor schon fast einem Jahr, war es jetzt nahezu perfekt. Alles war geklärt und er war offener geworden. Mein Schwager Julian gehörte schon zu seinem engeren Freundeskreis. Dass es soweit kommen würde, hätte ich mir niemals vorstellen können.
Aber ich war zufrieden.
So, wie es war.
„Hat sie noch was zu deinem Jumpsuit gesagt?", Jan streichelte meine Schulter.
„Nee", ich sah ihn an und reckte mich, um seine Wange zu küssen, „ich weiß auch nicht, warum alle Brautjungfern auch einen tragen müssen."
„Sie hat Angst, dass ihr jemand die Show stiehlt", zwinkerte mein Freund, „dabei siehst du eh am besten aus. Egal, was du trägst."
„Wie komm ich denn zu dem Kompliment?", witzelte ich.
„Gute Frage", er schlang seinen linken Arm um mich und drückte mich so runter auf das Polster der Couch, „vielleicht, weil ich dir heute noch nicht gesagt hab, dass du gut aussiehst."
Langsam küsste er sich meinen Hals entlang und fuhr mit den Händen gemächlich unter mein Shirt.
„Ist das so?"
„Jap."
Die Fingerkuppen tippelten zu dem Bund meiner Jeans und machten sich achtsam an dem Knopf zu schaffen, während er wieder Küsse in meiner Halsbeuge verteilte.
„Ich glaube, dass dir dieses burgund wunderbar stehen wird", meine Hände schoben sich in seinen Nacken und zogen ihn an meine Lippen.
„Du verarscht mich doch", nuschelte er zwischen zwei Küssen.
„Sicher", kicherte ich und zerrte an seinem Pullover.
„Lass uns rübergehen", Jan setzte sich auf; die Beine rechts und links neben meinem Becken positioniert, „ich will es einmal in meinem Leben nutzen, dass ich Spätdienst habe und meine Freundin frei. Ausschlafen und Sex ist 'ne gute Idee."
Er stand auf, hielt mir die Hand einladend entgegen und machte einen Knicks.
„Danke, Sir", ich legte meine Hand in seine, verbeugte mich und folgte ihm ins Schlafzimmer.


Am nächsten Morgen wurde ich unsanft von dem Sturmklingeln des Postboten geweckt. Ich warf mir den Bademantel, der an einem Haken hinter meiner Schlafzimmertür hing, über, und eilte zur Tür.
„Guten Morgen", grinste mich meine Stammbriefträgerin an, „für Holmberg mal wieder."
„Nehm ich", schmatzte ich verschlafen und grinste.
Sie reichte mir das schuhkartongroße Paket an und tippte anschließend irgendetwas auf ihrem Scanner ein.
„Geht's Ihnen gut?", fragte ich netterweise, um eine Unterhaltung zu beginnen.
„Ich weiß, dass es noch früh ist. Wir können das nächste Mal quatschen", ihre Lippen wurden von einem netten Lächeln umspielt.
„Danke", kicherte ich, verschränkte die Arme vor dem Körper und schüttelte mich kurz.
Ich konnte mich nicht erinnern, irgendetwas bestellt zu haben und rümpfte nachdenklich die Nase.
„Alles in Ordnung?"
„Ja", bestätigte ich, „ich weiß nur nicht, was ich wieder bestellt habe. Beziehungsweise ob ich überhaupt was bestellt habe."
„Na ja", die Brünette schielte grinsend auf die Etiketten des Päckchens, „das kommt aus Finnland. Vielleicht haben Sie vor einiger Zeit was bestellt, was jetzt erst ankommt?"
„Woher bitte? Finnland?"
Wieder stierte sie auf das Klebeetikett.
„Finnland", nickte sie zustimmend und hielt mir den Touchstift zum Unterschreiben hin, „ja. Finnland."
Ich hatte täglichen Kontakt zu Osmo. Von einem Paket hatte er nichts gesagt.
Warum sollte er mir auch etwas schicken?
Ich setzte mein Kürzel auf ihren multimedialen Quittungsblog, verabschiedete mich und schob die Tür leise mit dem Fuß zu. In der Küche stellte ich das ungefähr zwei Kilogramm schwere Paket auf die Arbeitsplatte und schaute mir die Absende- und Empfängeraufkleber genauer an.
Das Paket war gar nicht von Osmo.
Der Absender war jemand anderes.
Jemand, von dem ich es nicht erwartet hatte.
Samantha.
„Guten Morgen", Jan war hereingekommen und legte die Arme von hinten um mich, „was hast du bestellt?"
„Ein Päckchen", gab ich irritiert von mir und lehnte mich schützend darauf.
„Das sehe ich", er küsste den Haaransatz an meinem Nacken, „aber was ist da drin?"
„Geheim."
„Geheim?"
„Ja."
„Warum?"
„Weil ist so", lachte ich unsicher, fasste an seine Hände, die auf meinem Bauch lagen und zog ihn aus der Küche, „komm, wir gehen nochmal ins Bett."
„Wieso machst du so 'n Geheimnis daraus?", wollte Jan wissen, als ich ihn durch den Flur zog.
„Lass dich doch überraschen", schwänzelte ich herum, „warte ab."
„Auf?"
„Sei nicht so neugierig."
„Ist es was für mich?"
Das war meine Rettung.
Ich wollte nicht, dass Jan auf komische Gedanken kam, wenn er sah, von dem das Päckchen gewesen war. Ich hatte nie wieder ein Wort über Samu verloren. Schon gar nicht als Samantha. Wieso zum Teufel sollte „sie" mir dann ein Paket schicken? Das machte wenig bis gar keinen Sinn.
„Genau", zwinkerte ich und schloss hastig die Tür hinter uns, als wir wieder im Schlafzimmer ankamen.


Ich hatte das Haus am frühen Nachmittag gemeinsam mit Jan verlassen, um noch einige Einkäufe zu erledigen. Wieder Daheim stellte ich das Paket auf den Wohnzimmertisch, damit ich genug Platz für die Einkäufe hatte und schob den Gedanken an das Auspacken ganz weit vor mir her. Anschließend klickte ich mich durch das Internet, las Nachrichten online, beantwortete E-Mails und schickte Estefania endlich die Bilder von dem Geheimkonzert im Juni.
Immer wieder sah ich vom Esszimmertisch auf den Couchtisch.
Um mich zu beschäftigen, lackierte ich mir die Nägel, schaute die letzten drei Folgen meiner Lieblingsserie auf dem Laptop bei einem Streamingdienst und tat eigentlich gar nichts. Zumindest nichts sinnvolles, womit ich mich hätte brüsten können.
Wieder sah ich auf das Päckchen und tippelte dann auf der Tischplatte herum.
Paket.
Tischplatte.
Paket.
Tischplatte.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was der Inhalt dieses Pakets war.
Und eigentlich war das so ziemlich das Letzte, was ich von jemandem bekommen wollte, der keinen Stellenwert mehr in meinem Leben hatte.
Trotzdem stand ich auf, holte mir ein scharfes Messer aus der Küche und ließ mich auf dem Polster der Eckcouch sinken. Bevor ich die Klebestreifen entfernte, schüttelte ich es leicht und hielt es an mein Ohr.
Ich hörte nur ein immer wiederkehrendes, dumpfes Geräusch.
Hoffentlich war es keine Schildkröte.
Ich wollte gar nicht wirklich wissen, was der Inhalt dieser Zusendung war.
Wahrscheinlich würde alles in die Luft gehen, wenn ich das Messer auch nur ansetzte.
Ich atmete laut aus und ließ den Luftstrom zwischen meinen Lippen vibrieren.
Samu war nicht in der Lage, eine Bombe zu bauen.
Oder?
Ich lehnte mich zurück und warf den Kopf in den Nacken.
Auf der einen Seite reizte mich der Inhalt aber doch.
Das war fast wie Weihnachten als kleines Kind.
Man wusste nie, was man letztlich bekam.
Auf der anderen Seite hätte ich es am liebsten ungeöffnet in den Altpapiercontainer die Straße runter geschmissen.
Paket.
Altpapiercontainer.
Paket.
Altpapiercontainer.
Paket.
„Mein Gott ey", sagte ich laut, als die Neugierde doch siegte.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt