Sollte Jan sehen, wie fett ich werden konnte

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Das Wetter war furchtbar. Der kurze Weg von meinem Wagen, die Treppe zu meiner Haustür hinunter, war eine einzige Katastrophe. Ich war komplett durchnässt, als ich nach gefühlten Stunden endlich im Flur stand und die nicht mehr ganz trockene Übergangsjacke auf einen Bügel an der Garderobe hing. Just in dem Moment, als ich mich bückte, um meine kalten Füße aus den Chucks zu befreien, hörte ich aus dem Wohnzimmer den mittlerweile sehr vertrauten Anrufton von Skype. Schnell hinkte ich mit einer Hand an der Schleife des Schnürsenkels wie der Glöckner von Notre Dame zu dem Laptop und nahm das Gespräch entgegen.
„Hallo Schatz", tönte Jan mir entgegen, „wie gehts dir?"
Ich hatte eigentlich gehofft, eine andere Stimme zu hören.
„Hi Jan", gab ich kurz zurück und entknotete meine Schnürsenkel, „alles gut, bei dir auch?"
„Jetzt wieder."
„Du spinnst."
„Wie war dein Tag?"
Fast jeden Abend rief er mich an. Stellte die gleichen Fragen, regte sich über seine Kollegen auf oder betonte, wie sehr er Wien und die Menschen hasste. Das war in Ordnung für mich, nervte aber irgendwann tierisch. Je öfter Jan die gleiche Platte spielte, desto uninteressierter wurde ich. Mehr, als sowieso schon. Vor zwei Wochen hatte ich angefangen, nebenbei den Haushalt zu machen. Ich brachte meine benutzte Müslischale von morgens in die Küche, putzte Staub oder wusch Wäsche; und warf Jan vor oder nach dem Wechsel eines Raumes immer wieder ein zustimmendes „hm" zu. Wir hatten uns in der Zeit, in der er in Österreich war, nicht unbedingt angenähert. Er überschüttete mich mit Kosenamen, während ich sie gekonnt wegließ, obgleich ich damit schon immer sparsam gewesen war und lachte nicht mehr über seine schlechten Witze. Er wollte auch, dass ich ein Wochenende zu ihm nach Wien kam, weil er mich sehr vermisste. Leider war das eher einseitig. Abgesehen davon, erstickte ich in Arbeit.
Ich war froh, dass er uns diese Möglichkeit zur Auszeit gab. Ich merkte, dass er mir nicht fehlte.
Dass ich ihn nicht vermisste.
Wie Samu.
Als ich im September im Zug nach Bochum saß, überlegte ich die ganze Zeit, ob ich ihm nochmal schreiben sollte. Ich hatte das alles wahnsinnig genossen und hatte mich bewusst für diesen Kuss entschieden. Ich konnte mir nicht weiter vorspielen, die ganze Zeit über nichts gefühlt zu haben. Ich begab mich mit diesem Eingeständnis ein weiteres Mal auf sehr dünnes Eis. Aber das war dann so. Und nicht verhinderbar. Samu hatte mir innerhalb dieser wirklich wenigen Stunden dieses ganz besondere Gefühl gegeben, was ich immer nur fühlte, wenn er bei mir war. Ich hatte mich, kurz bevor wir in den Hauptbahnhof gefahren waren, also überwunden und mich nochmal für das kurze Wochenende bedankt. Seine Antwort darauf war lediglich „too short". Danach schrieben wir den ganzen restlichen Tag hin und her und nach dem Konzert von Niila in einer weiteren deutschen Stadt, den Samu mir nicht gesagt hatte, schrieb er mir nochmal, woraufhin ich ihn fragte, ob er nicht anrufen wollte. Nach diesem einen Gespräch wurde es zu unserem abendlichen Ritual. Und ich freute mich jeden einzelnen Abend auf diese 20 Minuten, die mit der Zeit immer mehr wurden. Leider war Samu in den letzten zwei Wochen so viel beschäftigt und unterwegs gewesen, dass wir nicht zum längeren Telefonieren kamen. Vielleicht verlegte ich meinen Haushalt deswegen auf den Abend. Samu war nicht da. Und aktiv mit Jan beschäftigen wollte ich mich nicht.
Immer wieder schob Samu mich zwischen seine Termine, rief mich an, wenn er eigentlich arbeiten sollte und schaufelte sich wenige Minuten vor oder nach den Konzerten für mich frei. Das schätzte ich sehr und auf jede einzelne Minute mit ihm freute ich mich tierisch. Und dem Tourabschluss in einer Konzerthalle in Espoo fieberte ich bereits seit dem Frühstück entgegen. Ich konnte es nicht abwarten, seine Stimme endlich wieder länger als fünf Minuten am Stück zu hören.
21.18 Uhr.
Noch knapp 10 Minuten konnte Jan mir von seinem langweiligen Tag erzählen, dann würde Samu mich endlich anrufen.
„Findest du, dass ich da überreagiert habe?", fragte er.
Wobei überreagiert?
Ich hatte nicht wirklich zugehört, weil ich nebenbei damit beschäftigt war, die leeren Pfandflaschen aus meiner Tasche zu räumen, die ich schon wochenlang mit mir rumschleppte.
„Nein", antwortete ich und setzte mich auf einen der Esszimmerstühle vor dem Laptop, „ich hätte das auch so gemacht. Die können nicht davon ausgehen, dass du das alles alleine machst."
Ich hoffte, dass es einfach wieder um irgendeine Gruppenarbeit ging, bei der er angeblich als einziger die Aufgabenstellung richtig verstanden hatte. Als hätte er die Weisheit mit Löffeln gegessen.
„Danke Emmchen. Das macht mir Mut, dass ich doch nicht alles falsch mache", gab er zurück und wechselte das Thema, „was hältst du davon, wenn wir nach deinem Geburtstag ein paar Tage zusammen wegfahren? Teneriffa soll zu dieser Jahreszeit noch sehr schön sein. Wir haben schließlich sechs Wochen nachzuholen."
„Ich hab im November ganz viele Projekte", log ich, „da werde ich nicht frei bekommen."
„Oh. Wie schade. Dann vielleicht über Weihnachten?"
„Das sehen wir dann", sagte ich trocken und drückte den Homebutton meines Handys, um mir die Uhrzeit anzeigen zu lassen.
21.21 Uhr.
Noch neun Minuten.
„Ich muss jetzt auflegen", gähnte ich laut, „ich muss morgen wieder früh raus."
„Hm", Jan wirkte geknickt, „sprechen wir uns morgen Abend?"
„Ich bin morgen Abend bei Leni zum Probeessen für die Hochzeit. Sie hat
verschiedene Carteringfirmen bestellt und will jetzt, dass wir uns durch die Menüs essen."
„Dann frohes Schaffen", lachte Jan, „denk an deine Bikinifigur."
„Haha", ich zeigte mit dem Mittelfinger auf die Linse, obwohl er mich nicht sehen konnte „wie lustig."
„Ach komm. Das war 'n Witz, Süße."
„Ich mach auch gleich mal einen Witz."
21.23 Uhr.
„Bis die Tage, Emmchen."
Emmchen. Schon wieder.
Ich würgte leise für mich.
„Ich liebe dich. Grüß alle von mir."
„Mach ich, tschüss", brummelte ich und legte auf, ehe ich nochmal im Badezimmer verschwand und mir die Schweinchenlocken aus den Haaren zu kämmen versuchte, bevor Samu anrief. Als mir das nicht gelang, zwirbelte ich sie am Oberkopf einfach nur zusammen und steckte sie mit einer Haarnadel fest. Ich holte mir eine 300 Gramm Tafel Schokolade aus meinem Küchenschrank und setzte mich wieder zurück an den Laptop. Sollte Jan sehen, wie fett ich allein durch dieses kakaohaltige Lebensmittel werden konnte.
Ungeduldig schaute ich auf die Uhr am linken Bildschirmrand.
21.28 Uhr.
Nervös tippte ich mit den Fingernägeln auf dem Tisch herum und sah gespannt auf die Kontaktliste. Außer, dass Jan sich ausgeloggt hatte, war nichts weiter passiert.
21.29 Uhr.
Nichts. Kein Samu.
21.30 Uhr.
Immer noch nichts.
Dabei war er nicht zu spät.
Ich war einfach nur unruhig.
Die wenigen Minuten fühlten sich wie Stunden an und zogen sich wie Kaugummi. Ich war so aufgeregt, dass ich in die Hände klatschte, sie immer wieder knetete und anfing, den Nagellack von den Fingern zu knibbeln. Eine schlimme Eigenart, die ich mir irgendwann angewöhnt hatte.
Ich stopfte die Schokolade in mich hinein und wollte mir gerade ein Glas Wasser holen, als ich den typischen Klingelton hörte. Schnell eilte ich zurück in das Wohn- und Esszimmer und nahm die Einladung zur Videotelefonie mit Samu an. Während die Verbindung aufgebaut wurde, ging ich zurück in die Küche, füllte das Gefäß mit Leitungswasser und setzte mich an vor den Laptop.
Ein gutgelaunter Samu im weißen Hemd blickte mir entgegen. Im Hintergrund wuselten unzählig viele Leute umher.
„Moi", grinste er.
„Hallo", ich winkte in die Kamera.
„Paska!", schrie jemand und Samu schüttelte lachend den Kopf, nahm das Macbook in die Hand und verließ die laute Halle, in der die Leute vermutlich gerade alles zusammenräumten.
„Wait", sagte er leise und schaltete in einer kleinen Kammer ohne Fenster die grelle Deckenlampe ein.
„Ich hab Zeit", sagte ich, trank einen Schluck und beobachtete Samu dabei, wie er Holzkisten übereinander stapelte, um sich einen Hocker und einen Tisch zu bauen.
„Ist das die geheime Schnapskammer von Espoo?", fragte ich.
„Why?"
Ich zog die Augenbrauen hoch.
Samu verstand, schaute sich um und öffnete den Deckel einer der Kiste, die neben ihm stand.
„Empty", er zog eine Schüppe, „so keine Schnaps für mich now."
„Armer Samu", ich schob ebenfalls die Unterlippe nach vorne, steckte mir ein Stück Schokolade in den Mund und stützte den Kopf auf den Händen ab.
„Fuck you", er zeigte mir den Mittelfinger und klappte den Kragen seines Hemdes nach oben, „was du denkst über meine shirt?"
„Heiß", schmatzte ich knapp.
„Dankeschon", seine Augenbrauen wippten, „but I already know that. Ich wollte nur machen a little smalltalk fur die beginning. Now it's up to you. Wie war deine day?"
„Gut. Ich hatte viel zu tun. Wie war deiner?"
„Don't ask", er winkte ab und fuhr sich durch mit beiden Händen durch die Haare, „ich bin really happy, wenn ich bin at home tonight und kann ausschlafen morgen. Heute evening wir gehen noch durch die clubs und morgen ich besuche dann meine family. Dann next week ich bin in die studio."
„Das klingt nach Arbeit."
„Yes, eine bisschen. But irgendwann ich habe holidays. Maybe ich fahre in die mökki und fahre eine bisschen mit die boat. Just relaxing and do nothing", eine Sprechpause entstand, „but first ich komme back nach Germany at the end of october."
„Yes", ich lächelte, zog eine dünne Haarsträhne aus meinem Dutt und zwirbelte sie zwischen meinen Fingern, „ich freu mich."
„Me, too. Ich bin so happy to see you soon", flüsterte Samu und beugte sich näher an den Laptop, „ich komme auch in eine costume."
„Sagst du mir, was für eins?"
„No way, lady. Das ist eine surprise."
„Tipp?", lächelte ich schief.
„No."
„Bitte?"
„Hast du schon eine costume?", lenkte Samu ab, lehnte sich auf seinem improvisierten Hocker mit verschränkten Armen nach hinten.
„Klar", ich verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.
„Was fur eine?"
„Sag ich dir nicht."
„Chocolate?"
„Was?"
„Gehst du als eine dead chocolate?"
„Als Tafel?"
„Yes?"
„Warum?", wieder stopfte ich ein Stück der Schoko und Keks-Schokolade in meinen Mund.
„I loooove chocolate", Samu leckte sich die Lippen, „c'mon. Gib mir eine tip für deine costume. Ich bringe auch a new chocolate."
„Nö", ich sah gespielt beleidigt zur Seite, „du gibst mir auch keinen."
„Dann du musst warten."
„Du auch."
„I kann warten."
„Ich auch."
„Sure? Du konntest nicht warten", schmunzelte er siegessicher, „du wirst mir sagen, weil du nicht kannst fur dich behalten."
„Auf was nicht warten?"
„Fur cuddling in die bed, kissing me again, holding my hand before you left for example."
„Moment. Geht es hier gerade noch um das Kostüm?", fragte ich ungläubig, „es kommt mir so vor, als hätte ich einen Übergang verpasst."
„What do you think?", er zwinkerte.
Ich wusste nicht, worum es noch ging.
Stellte er gerade bewusste diese Frage, um mich aus der Reserve zu locken?
Aber ehe ich antworten konnte, wurde die Tür hinter Samu aufgerissen und ein großer, braunhaariger Typ mit Bart stützte sich auf seinen Schultern ab.
„Samu!", brüllte er ihm entgegen und schickte weitere Wortfetzen auf Finnisch hinterher.
Samu sah nicht erfreut aus und schüttelte den Kopf.
„Gib mir eine moment", sagte er in die Kamera, stand auf und nahm den komischen Typen mit vor die Tür.
Ich wartete und wartete und wartete und aß weiter von der Tafel Schokolade, die ganz unschuldig vor mir auf dem Tisch lag. Ich mümmelte ein Stück nach dem anderen in mich hinein, als plötzlich dieser bärtige Typ den Weg vor die Kamera fand.
Ohne Samu.
„Moi", grinste er breit und lehnte sich nah an den Bildschirm, so das seine Stirn fast die Linse streifte, „what's your name?"
„What's your name?", gab ich zurück und setzte mich gerade hin.
„Hannu", er wich fast einen Meter zurück, „nice to meet you."
„Emma", grinste ich.
„And who are you?"
„Old friend."
„How old is old? You're not older than 22."
„26."
„You're looking much younger", Hannu lallte, „what's your business?"
„Don't be curious."
Wo steckte Samu? Ich wollte mich nicht mit diesem besoffenen Affen unterhalten.
„Only wanna know what the beautiful girl behind the camera is doing with the old Samu."
„Private", antwortete ich.
„I'm younger", zwinkerte er, „where are you from?"
„Germany."
"And the other half?"
„I'm from Germany", wiederholte ich.
„No", er lachte und winkte mit der flachen Hand hin und her, „maybe you're from Germany. But you have an other nationality. You're nose isn't german. Looks like finnish or something else. Maybe danish."
"You know that because of what?"
"You have a snup nose. I like that."
„Ah", ich rollte die Augen, „where is Samu?"
„Toilette, Niila, drinking, I don't know", Hannu zuckte mit den Schultern, „and I love your red hair."
Baggerte er mich gerade an?
„I like girls like you a lot."
„Aha."
„Maybe we can drink a coffee together?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Where are you now? I can pick you up."
„I don't drink coffee."
„Tea?"
Plötzlich flog die Tür hinter Hannu auf und Samu trat endlich wieder herein. Ich konnte sehen, wie er die Augenbrauen kritisch zusammenzog.
„Ah", stieß ich fröhlich aus, „Samu is back. Was very nice to meet you, Hannu."
Hannu drehte sich zu Samu um, der mit dem Daumen auf den Flur deutete. Er schüttelte den Kopf, zeigte auf den Laptop.
„Fuck you. I'm talking to this beautiful girl. Give me five minutes more", sagte Hannu zu Samu, „fucking five minutes."
„Be careful", Samu krempelte die Ärmel seines weißen Hemdes hoch, „Medusa has a lot of tentacles."
„Oh", Hannu drehte sich dem Macbook zu und zwinkerte, „I like her tentacles."
Ich vergrub den Kopf in den Händen.
„Go and drink a beer,dude", Samu klopfte ihm auf die Schultern, „I'll follow in a few minutes."
„I don't wanna go. Can I have her number?"
„No?", meinten Samu und ich unisono.
Er lachte.
„You're dismissed, sorry bro."
Hannu stand von der Kiste auf, schob sich an Samu vorbei und winkte mir nochmal zu. Ich winkte zurück.
„Sorry", entschuldigte Samu sich, „er ist ein bisschen crazy."
„Und betrunken."
„And drunk", stimmte er mir zu.
„Er sieht älter aus als du."
„He is younger. Seven or eight years."
„Sieben oder acht Jahre älter vielleicht", schmunzelte ich.
Samu lachte.
Einen Moment lang schwiegen wir uns an und betrachteten den jeweils anderen durch die Kamera.
„Ich freue mir auf deine birthday", flüsterte er, „a lot."
„Ich mich auch", ich zog ein Bein auf den Stuhl und legte meinen Kopf darauf ab.
Samu lächelte.
Ich lächelte.
In diesen Moment hinein hämmerte jemand wie von der Tarantel gestochen gegen die Tür.
„Ich muss gehen now", Samu senkte den Kopf, „Aftershowdrinking. I'll call you, ok?"
„Wann immer du willst", grinste ich breit, „viel Spaß und grüß Niila."
„I'll do. What are you doing now?"
„Schlafen. Ich muss morgen wieder früh raus."
„Dann ich rufe an morgen", gab er pflichtbewusst von sich.
„Ruf an, wenn dir danach ist", schmunzelte ich, „egal, wie spät es ist."
„Ok", Samu legte die Hand an die obere Ecke des Laptops, „have a good night, lady. Traum schon."
„Das werde ich", winkte ich lächelnd und schloss ebenfalls den Laptop.

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