Niedergeschlagen trottete ich zur Eingangstür hinaus und zog mir den Backstagepass auf dem Weg zum Parkplatz über den Kopf. Jan hupte, als ich gedankenverloren an seinem silbernen Mercedes vorbei gehen wollte.
Mein Kopf war voll.
Voll mit Ausreden und Lügen, die ich Jan im schlimmsten Fall erzählen wollen würde.
„Was war das?", fragte Jan wütend, noch bevor ich die Tür schließen konnte, „was denkt er, wer er ist? Als wäre er der größte Stecher unter der Sonne, weil er Gitarre spielen kann. Und was denkst du dir, ihm sowas privates von mir zu erzählen?"
„Fährst du mich in die Redaktion?", wich ich aus.
Er lehnte sich zur Tür und musterte mich.
„Jetzt noch?"
„Ich will den Artikel noch fertig schreiben."
„Was hat er mit dir gemacht?", Jan zog die Handbremse an, schaltete den Motor aus und schnallte sich ab, „was hat der alte Penner gemacht?"
„Rede nicht so über ihn."
„Du nimmst ihn nach dieser Aktion gerade noch in Schutz. Warum?"
„Das tu ich nicht. Aber du unterstützt mit deinen negativen Vibes nicht gerade meine Arbeit."
„Warum wolltest du mit ihm alleine sein?"
„Weil ich schlimmeres verhindern wollte?"
„Was wäre denn noch schlimmer gewesen?"
„Vielleicht hättet ihr euch geprügelt und ich hätte hinterher in die Notaufnahme fahren müssen, weil einer von euch eine gebrochene Nase hat."
„Wer?", grinste Jan frech.
„Fahr mich in die Redaktion, ok?"
„Wer hätte die gebrochene Nase gehabt?", bohrte er.
„Einer von euch", antwortete ich leise und klopfte auf das Armaturenbrett.
„Man könnte meinen", lachte Jan ironisch, schaltete den Motor wieder ein und fuhr los, „dass er dir wirklich was bedeuten würde. Jeder andere hätte zugelassen, dass er vermöbelt wird, weil sein Verhalten unter aller Sau war. Stattdessen rettest du ihm seinen finnischen Arsch. Glück hat er."
„Tut mir leid, dass ich mit ihm über dich geredet hab", entschuldigte ich mich, „das war dumm von mir und irgendwie nicht fair."
„Ich rede auch mit Marius über unsere Beziehung. Du hättest mir aber sagen können, dass ihr eine jahrelange Freundschaft zueinander pflegt."
„Tut mir leid."
„Ist ok", er strich über meinen Oberschenkel, „aber es wäre schöner gewesen, wenn ich das irgendwie gewusst hätte. Ich hätte mich von Anfang an ihm gegenüber anders verhalten. Im Schwimmbad wäre ich nicht so steil auf ihn gegangen."
Ich wischte imaginäre Staubkörnchen an der Mittelkonsole weg.
„Ich kauf dir mal so 'n Swiffer", lenkte ich ab.
„Emma?", Jan griff nach meiner Hand.
„Hm?", blinzelte ich.
„War da mal mehr?"
„Wo?"
„Zwischen dir und und diesem Samu?"
„Warum?"
„Falsche Antwort, Süße. Wann und wie lange?"
„Was soll sein?"
„Er bedeutet dir was", sagte er argwöhnisch.
„Er ist 'n alter Bekannter."
„Und ein Freund. Offensichtlich."
„Jan, bitte", ich suchte die passenden Worte, „wir haben miteinander gearbeitet und daraus hat sich eine Freundschaft entwickelt."
„Das klang aber noch anders, als du wegen ihm letztes Jahr das Interview versaut hast und nach Berlin musstest. Was hat er für einen Platz in deinem Leben?"
„Was willst du wissen?"
„Was das gerade war. So reagiert man nicht auf jemanden, mit dem man befreundet ist."
„Spinn nicht rum", zwang ich mich zu lachen, „das, was du da unterschwellig versuchst herauszufinden, ist weit hergeholt."
„Ach", er hüstelte gestellt und bog in Richtung Innenstadt und Redaktion ab, „ist das so?"
„Du denkst, da wär irgendwann mal was gewesen, was ich di..."
„Nein. Ich denke, da ist irgendwas", unterbrach Jan, „Gegenwart. Irgendwas ist da in Helsinki gelaufen, was dieses Verhalten erklärt."
„Das ist ewig her."
„Na dann."
„Das ist schwachsinnig", schüttelte ich den Kopf und lachte.
Das alles klang so, als wüsste Jan irgendwas. Vielleicht von dem Bild auf der Eisbahn? Oder hatte Leni gebeichtet, dass Samu eine Art Vorgänger war?
„Wie kommst du darauf?"
„Schon gut", Jan winkte mit der flachen Hand ab und kuppelte in den nächsthöheren Gang, als wir die Königsallee herunter bretterten.
„Wir sind Freunde gewesen, ja. Aber du hast ja gehört, wie wir miteinander geredet haben. Das ist lange her. Mehr war da nicht."
„Ok."
Als er nichts mehr sagte, starrte ich die restliche Fahrt aus dem Fenster.
„Versteh mich nicht falsch", fing er plötzlich an, „ich will dir gar nicht unterstellen, dass du mit fremdgehst."
„Nicht? Das hörte sich gerade anders an."
„Werd nicht albern. Bei jedem anderen würde ich mir Gedanken machen. Aber der Sack ist gar nicht dein Fall."
„Hm", bejahte ich.
„Willst du was essen?", wir hielten an einer roten Ampel, „hier vorne gibts Döner."
Ich grinste ihn an, verneinte dann und sah wieder hinaus auf die leeren Straßen Bochums.
Ich fühlte mich, als würde ich ein Gespräch mit Doktor Jekyll und Mister Hyde führen. In einem Moment war die Welt für Jan in Ordnung; dann quetschte er mich plötzlich wieder aus und beschimpfte Samu.
„Warum redest du nicht?"
„Jan, bitte", mein Geduldsfaden war kurz davor zu reißen, „was soll sein? Es ist spät und ich muss noch arbeiten."
Er hatte mir nichts getan und konnte am wenigstens für meine schlechte Laune. Ich wollte einfach nicht über den Abend reden. Ich hatte einen Job gehabt und diesen erfolgreich ausgeführt.
Mehr oder weniger.
„Soll ich hier nochmal abbiegen?", er zeigte aus dem Fenster in eine Spielstraße, „da muss man ganz langsam fahren."
„Ich bin müde und will nicht reden. Das ist alles."
„Mit Sicherheit. Und mein Name ist Marty McFly, hallo. Ich komme aus der Zukunft."
Ich verschränkte die Arme und ließ mein Kinn auf die Brust fallen.
„Du hast schlechte Laune, Emma. Das kann jeder sehen", merkte er an, „was hat der alte Sack gemacht, als ich raus war? Dich angefasst? Dich beschimpft?"
Ich antwortete nicht und schaute wieder aus dem Fenster. Jan stöhnte auf und setzte den Blinker kurz vor der Fußgängerzone, in der sich die Redaktion befand. Als ich aussteigen wollte, verriegelte er die Türen mit einem einzigen Knopfdruck.
„Mach auf", ich rollte die Augen und zog mehrmals kräftig an dem silbernen Griff.
Ignorant begann er zu pfeifen und kramte in dem Fach der Fahrerseite herum.
„Jan!", rief ich, „das ist albern. Ich muss noch arbeiten."
„Was ist mit dem gewesen, hm?"
„Gar nichts."
„Das sah anders aus."
„Was willst du von mir?"
„Du sollst mit mir darüber reden", schrie er, „ihr seid Freunde gewesen, ok. Aber ich merk doch, dass da was ist!"
Sauer knallte ich die Ellenbogen auf das Armaturenbrett und legte den Kopf schützend in die Hände.
„Ich hab mich in ihn verliebt ", sprudelte es aus mir heraus wie aus einer überlaufenden Kochtopf, „damals."
„Also war da doch was."
„Ich war verliebt. Das ist alles."
„War das zeitgleich mit dem Griechen?", kombinierte er.
„Grieche?"
„Der Kerl aus der Hotellobby."
„Der war Protugiese. Aber ja."
„Und was war da?", er war total interessiert, „zeitgleich?"
„Nichts", log ich.
„Geil, dass wir auf ein Konzert gehen von 'nem Deppen gehen, in dessen Leadsänger meine Freundin mal verknallt war", Jan tippte auf dem Lenkrad herum, „geil."
„Willst du mir das jetzt negativ anrechnen?"
„Ich will nichts von irgendwelchen Verflossenen wissen. Ich erzähl dir auch nicht von Nadine."
„Verarscht du mich gerade?"
„Dann lügt man!", schrie er aufgebracht.
Mister Hyde.
„Was?", ich kratzte mir ungläubig am Kopf.
„Bei sowas ist das ok, weil das den Partner verletzt", zickte er wie ein Mädchen, „außerdem ist das lächerlich, oder? Du kannst doch bei einem Popstar nicht von Liebe sprechen. Das ist eher ein Anhimmeln gewesen, oder?"
Popstar war ein böses Wort. Das klang eher abwertend und wurden den Jungs nicht gerecht.
„Deswegen hab ich geschwiegen. Weil du keine Ahnung hast."
„Oh", er wedelte aufgebracht mit den Händen, „ich habe keine Ahnung. Wovon auch? Der Scheißkerl ist ein Musiker, der nur Schnipsen muss und dann an jedem Finger Millionen von Frauen haben kann. In so einen verliebt man sich nicht. Abgesehen davon hat er ein riesiges Ego und vermutlich 'n kleinen Pimmel. Anders kann ich mir das nicht erklären."
„Werd nicht unfair", meinte ich kühl.
„Ach. Kannst du mich eines besseren belehren?"
„Nein. Ausnahmsweise nicht."
„Du warst doch nicht richtig verliebt, oder?", lachte er, „so wie in mich? Mit Schmetterlingen im Bauch und dem ganzen Kram?"
Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der über sich selbst lachen konnte. Manchmal auch in Situationen, in denen ich selbst der Depp gewesen war. Aber Jan zog mich runter und machte sich über mich lustig; auf eine ganz unangenehme Art und Weise. Dazu kam, dass er sich für den Tollsten hielt.
Mit einer gezielten Handbewegung in das Handschuhfach griff ich nach dem Ersatzschlüssel für meine Wohnung, den ich Jan überlassen hatte, fasste nach hinten in den Fußraum, um meine Tasche zu holen und drückte den Knopf zum Entriegeln der Türen.
„Warte! Der Schlüssel!"
„Du bist einfach nur widerlich", meinte ich, als ich schon ausgestiegen war und nur noch den Kopf in die Tür steckte, „ich schütte dir mein Herz aus und von dir kommt nur ein dummer Spruch. Danke. Schlaf heute bitte zu Hause."
„Wie auch, du hast ja meinen Schlüssel", bot er mir die Stirn, „weißt du. Ich verstehe das nicht. Wir wären niemals zu diesem Konzert gegangen, wenn ich diese Hintergrundinformation gehabt hätte."
„Das ist mein Job gewesen."
„Trotzdem. Weißt du auch, warum nicht?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Weil es dich verletzt. Weil es dir wehtut, wenn du ihn immer wieder sehen musst. Nicht, weil du mich nicht interessierst oder ich auf deinen Gefühlen herumtrampeln will, Emma. Wenn du mit mir reden würdest, dann müssten wir uns nicht ständig über irgendwas streiten. Ja, der Spruch war doof, entschuldige. Aber du musst mich auch mal verstehen. Ich versuche, diese Beziehung möglichst angenehm für dich zu gestalten. Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich denke schon, dass ich ein überdurchschnittlich guter Partner bin."
„Klar", ich rollte mit den Augen, „vor allem am Anfang unserer Beziehung warst du der Beste."
„Ich hab daran gearbeitet. Oder nicht?"
Hatte er.
Hatte er wirklich.
Seine Homophobie und den Hang zum Perfektionismus konnte ich ihm schon wochenlang nicht mehr verworfen.
Jan war normaler geworden.
„Ja", nickte ich, „hast du."
„So. Und darauf können wir aufbauen. Oder? Es klappt so gut mit uns. Ich will das nicht verlieren."
„Du machst mich so sauer, Jan. Du weißt nicht, wann Schluss ist."
„Ich will einfach der Mann an deiner Seite sein. Das ist alles."
Welche Wahl hatte ich?
Samu hinterher rennen, ohne ein Ziel und mit meinem Leben hier brechen?
Oder den Schein wahren?
Seufzend lehnte ich mich auf den Beifahrersitz, legte meinen Wohnungsschlüssel in Jans Schoß und küsste ihn auf die Wange.
„Bis später, warte nicht auf mich."
„Bis später", grinste er, „ich liebe dich."
Ich zwinkerte, knallte die Tür und winkte Jan hinterher, nachdem er gedreht hatte.
Der Sex mit Samu war gut, aber dumm gewesen.
Ich hätte diese Reise nach Helsinki niemals antreten sollen.
Das mit Samu hatte keine Zukunft.
Samu und ich hatten keine Zukunft.
Jan und ich hingegen schon.
Mein Verhalten war schizophren.
Aber ich musste mich auf das konzentrieren, was ich hatte.
Um mich selbst vor diesen wieder aufkeimenden Gefühlen Samu gegenüber zu schützen.
In Thomas' Büro brannte noch Licht, als ich aus dem Aufzug stieg. Leise ging ich den Flur entlang und klopfte zaghaft an seine Tür. Er winkte mich hinein und grinste. Mit dem Telefon in der Hand signalisierte er mir, dass ich einen Augenblick warten sollte. Ich starrte auf das bunt-gepunktete Bild über seinem Schreibtisch und nahm nur einzelne Wortfetzen seines Gesprächs wahr.
Ich musste mir eingestehen, dass ich mir eine andere Art von Gespräch mit Samu gewünscht hatte. Lieber wäre es mir gewesen, wenn er offen gesagt hätte, welches Problem er mit mir hatte.
Stattdessen war er unfair, nannte mich bei einem falschen Namen und sagte mir, dass ich eine Person war, die definitiv keine Spuren in seinem Leben hinterlassen hatte. Das war mehr als deutlich. Ich musste mich langsam daran gewöhnen, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
So schwer es mir fiel.
„Wie wars?", fragte Thomas und legte den Hörer auf.
„Gut gut."
„Wie gut?"
„So gut, dass ich Fotos aus der ersten Reihe gemacht habe."
„Perfekt", er rieb sich die Hände, „für Montag reicht. Geh ruhig nach Hause."
„Jetzt bin ich schon hier, Thomas."
„Ich wollte dir nur Freiheit suggerieren", lachte Thomas tief.
„Na danke", winkte ich ab und verließ sein Büro.
Ich bearbeitete die geschossenen Fotos gerade nach, als Thomas in mein Büro kam, mir einen frisch aufgebrühten Pfefferminztee auf den Schreibtisch stellte und sich in seinen Feierabend verabschiedete. Es war mal wieder sehr spät geworden. Den Artikel hatte ich innerhalb weniger als zwei Stunden verfassen können, weil mich eine Muse geküsst hatte; meine Hände waren nur so über die Tastatur geflogen. Das Bearbeiten der Bilder war schwieriger als vermutet. Das Licht musste so fallen, dass das Bild nach dem Druck nicht überbelichtet war. Ich positionierte einen Lichtpunkt in der linken unteren Ecke auf Rauls Bild, speicherte es ab und drückte die Pfeiltaste nach rechts.
Samu.
Der mir genau in die Kamera gesehen hatte.
Die Haare hingen ihm strähnig vor dem Gesicht, seine Augen konnte man aber dennoch gut erkennen, weil sie durch die Blitze der anderen Digital- und Handykameras regelrecht strahlten.
Ich setzte einen Weichzeichner ein, der seine Falten auf der Stirn etwas natürlich und nicht ganz so tief wirken ließ.
Speichern.
Pfeil nach rechts.
Nächstes Bild.
Samu.
Pfeil nach rechts.
Samu.
Pfeil nach rechts.
Samu.
Pfeil nach rechts.
Samu.
Ich schloss die Galerieansicht und scrollte mich durch den Ordner der Speicherkarte.
Während des Konzerts war mir gar nicht aufgefallen, dass ich so unendliche viele Bilder nur von ihm gemacht hatte.
Ungewollt im Bewusstsein.
Gewollt im Unterbewusstsein.
Ich favorisierte die Bilder, auf denen die Band komplett zu sehen war und zog sie aus dem Ordner auf den Desktop, um sie zeitungstauglich zu machen.
Um 01.40 Uhr ging ich ein letztes Mal in die Küche, um mir neues Teewasser aufzugießen. Ich rieb mir die geröteten Augen, als ich mich wieder auf den Drehstuhl fallen ließ und das Display meines Handys wild blinkte. Ich beugte mich nach rechts, um einen Blick zu erhaschen.
Jan spammte mich mit Nachrichten und Bildern voll. Just in dem Moment, als ich mit dem Finger nach rechts wischen wollte, um ihm zu antworten, blinkte der Name „Samantha" auf.
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Just friends?
Fanfiction"[...] Wie wäre es, wenn sie immer da wäre? Wenn sie morgens neben mir aufwachen würde? Immer? Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Keine Chance. Soweit hatte ich damals nicht gedacht; soweit sollte ich jetzt nicht mal ansatzweise de...