It's just another rainy afternoon ;-)

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„Und deswegen ist er –auch heute noch- einer der bekanntesten", wiederholte ich in meinem Monolog immer und immer wieder, als das Telefon auf meinem Schreibtisch schrill klingelte.
„Ja bitte?", genervt klemmte ich den Hörer zwischen Schulter und Ohr.
Seit Stunden saß ich an diesem Artikel über Albert Einstein für den Kinderteil der Zeitung. Ich fand einfach nicht die passenden Worte, um die jungen Leser bei der Stange halten zu können.
„Hier ist dein Bruder, hallo hallo", witzelte Daniel vorsichtig.
„Oh hi", meine Stimmung wandelte sich, „was kann ich für dich tun?"
„Erstmal solltest du fragen, wie ich an die Nummer komme, Schwesterherz."
„Irgendjemand wird sie dir wohl gegeben haben."
„Nicht irgendwer", er tat geheimnisvoll, „jemand, von dem du es nicht erwarten würdest."
Nur Leni hatte die Durchwahl. Aber das wäre zu einfach gewesen.
„Jan?", fragte ich weniger begeistert.
Seit seiner Flucht aus meiner Wohnung waren erneut zwei Wochen verstrichen vergangen.
Zwei Wochen, in denen absolute Funkstille herrschte.
Zwei Wochen, in denen wir nicht miteinander geredet hatten.
„Woher weißt du das?", wollte Daniel wissen.
„Die Frage ist eher, wie du an seine Nummer gekommen bist", wendete ich ein und tippelte mit den Fingern auf der Tastatur rum ohne einen Buchstaben zu drücken.
„Ich hab ihn einfach angerufen", meinte mein Zwillingsbruder trocken und begann zu pfeifen.
„Na klar!"
„Na ja", druckste er, „eigentlich hatten wir beide den gleichen Gedanken."
„Was heißt das?"
„Guck mal aus dem Fenster."
Ich nahm das 80er-Jahre-Telefon in die Hand und stiefelte damit zur Fensterfront hinter mir. Unten standen zwei Männer. Einer von ihnen trug eine rote Winterjacke, der andere eine blaue. Beiden winkten zu mir nach oben.
„Überraschung", sagte Daniel, „Jan wollte mit dir ins Kino und ich wollte eigentlich den neuen Italiener hier vorne ausprobieren. Dein Freund meinte dann, dass wir beides machen könnten."
„Ins Kino? Mittags?"
„Ich hab nicht weiter nachgefragt, Lov", nuschelte er in den Hörer, „aber wir können ja jetzt beides machen. Erst essen und dann gemeinsam ins Kino. Wie gesagt: Das war Jans Idee. Ich wollte mit dir essen gehen, weil wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen haben."
Ungläubig zog ich die Augenbrauen hoch. Das wäre etwas ganz Neues für Jan und auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.
„Ich bin sofort unten", schmunzelte ich, stellte das Schnurtelefon wieder auf den Schreibtisch und war dankbar für diese Art von Ablenkung.


„Cinema AND lunch? I'm really envious now. I'm sitting here in a boring room. It's just another rainy afternoon ;-)", schrieb ich Emma und legte meine Füße auf den Schreibtisch.
„I'm wasting my time, I got nothing to do :-)", antwortete sie schnell.
Ich sperrte die Tasten und schaute wieder auf den Stapel an Papieren, der auf dem Laptop lag. Mikko quälte sich mit einer Magen-Darm-Grippe und hatte mich gebeten, die restlichen Formulare für die Tour im Sommer auszufüllen. Viel lieber wäre auch ich ins Kino gegangen. Wer ging am frühen Mittag ins Kino? Das war vermutlich ein deutsches Phänomen.
Emma und ich schrieben seit ihrer Rückkehr nach Bochum fast täglich. Nachdem ich ihr am Abend nach unserem gemeinsamen Alkoholexzess geschrieben hatte, fragte sie mich am darauffolgenden Tag, wie sie zu mir in das Hotelzimmer gekommen sei. Seitdem rollten wir den Abend immer mal wieder von hinten auf, wenn einem von uns irgendetwas dazu einfiel. Ich verschwieg ihr unsere Annäherung im Aufzug, weil ich mir nicht sicher war, ob das wirklich passiert war. Mittlerweile kamen auch andere Erinnerungsfetzen zurück, deren Richtigkeit ich nicht bestätigen konnte.
Wir hatten vor der Tür des Hotelzimmers gestanden. Emma schaute erwartungsvoll auf das Schloss, welches sich mit einer Schüsselkarte öffnen ließ. Betrunken hatte ich meine hinteren Hosentaschen abgetastet.
Erfolglos.
Als Emma das nicht schnell genug ging, griff sie in meine rechte Tasche hinein, fingerte die Karte heraus, zog sie durch den Schlitz und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
„Das solltest du eigentlich noch kennen", hatte sie betrunken gelallt und sich einladend vor mir verbeugt.
Ich taumelte durch den Raum, während Emma immer noch in dem kleinen Flur stand. Als ich mich zu ihr umdrehte, starrte sie auf den Boden und ließ ihre Schultern kreisen.
Schwankend ging ich auf sie zu und streifte ihr den Mantel über die Schultern, um ihn anschließend über die Lehne des Sessels zu legen.
„Mir ist schlecht und ich hab Rücken", hatte sie plötzlich hinter mir gebrabbelt und die Arme von hinten um mich geschlungen.
Ich nahm ihre kleinen Hände von meinem Bauch und drehte mich zu ihr um.
„Ich würde mit dir schlafen, aber ich bin zu besoffen", ihr Kopf hatte an meiner nackten Brust gelehnt, „und wenn ich auf die Knie geh, komm ich nie wieder hoch."
Ich streichelte über ihre Schultern, fuhr ihre Ober- und Unterarme entlang und verschloss unsere Finger miteinander.
Emma schielte auf unsere Hände und sah mich danach müde an.
„Kein Stück älter als 35. Trotz der Falten", hatte sie geschmunzelt und geschmatzt, bevor sie ihre Hände aus meiner Umklammerung gelöst hatte.
Aus einer Laune heraus hatte ich ihren Nacken umfasst, sie zu mir gezogen und gierig geküsst. Zuerst schien sie erschrocken und überrascht, doch dann ließ sie sich voll darauf ein. Sie zupfte an meinem Gürtel herum, während sie verlangend ihre Zunge immer wieder in meinen Mund schob und löste sich von mir, als die Gürtelschnalle nicht so wollte wie sie.
„Ich schaffs nicht, sorry."
Lust hätte ich gehabt.
Vor allem, weil Sex im betrunkenen Zustand hemmungsloser und um einiges besser war als sowieso schon.
Alles, was danach geschah, befand sich in einer undurchsichtigen, milchigen Seifenblase. Ich hatte ihr das Kleid ausgezogen, sie auf die linke Seite des Bettes gelegt und zugedeckt. Den Rest konnte ich nicht rekonstruieren.
Unsere Gespräche gingen zwar nie über den Smalltalk hinaus, war aber –so schien es mir- für uns beiden eine willkommene Abwechslung vom Alltagstrott, dem wir verfallen waren. Meistens, wenn ich Emma schrieb, war sie in der Redaktion, betrieb Recherche oder vollendete einen Artikel über irgendein Theater- oder Museumsbesuch. Und immer, wenn sie fragte, was ich gerade tat, saß ich in meinem Studio und erledigte Papierkram. Auf unsere Liaison von vor zwei Jahren kamen wir niemals zu sprechen. Wir verhielten uns wie alte Bekannte und das war genau das, was wir waren. Bekannte, die sich ab und an schrieben, die sich nach zweijähriger Pause zufällig in einem Club wiedergesehen hatten.
Ich wühlte mich durch einen der getackerten Verträge für das Open-Air-Gelände in Oberhausen, unterschrieb ihn und legte ihn zu dem Stapel, auf dem ein Post-it mit „tehty" klebte. Ende Juni war es wieder soweit. Wir bekamen erneut die Möglichkeit, unsere Songs vor nicht weniger als 26.000 Menschen zu präsentieren. Unter dem Motto „Old but gold" hatten wir den Ticketverkauf über ContraPromotion begonnen. Sehr erfolgreich. Die Idee hinter dem Konzept war, ältere und vor allem unbekanntere Songs aus unserer Anfangszeit zu spielen. Jeder kannte „Forever yours", aber nur die wenigsten wussten, dass „Choose to be me" die Titelmelodie der 8. Staffel des Realityformats „Big Brother" gewesen war. Zudem war der Tourtitel eine Anspielung auf unser Alter. Alle außer Sami und Osmo waren mittlerweile über 40 und zählten uns damit selbst zu den alten Rockern der Musikgeschichte. Auch, wenn wir uns nicht so fühlten und uns im Winter immer noch gegenseitig Schneebälle an die Köpfe warfen.


Die Pasta schmeckte mir nicht. Ich wusste nicht, ob es an der Sauce oder dem Käse lag, oder ob ich mich einfach unwohl fühlte, weil Jan und Daniel mit mir zusammen an einem Tisch saßen. Ich hatte Daniel nicht erzählt, was Jan von seinem Lebensstil hielt. Das wusste Jan. Und vielleicht nur aus dem Grund hörte er sich nickend die Geschichten meines Bruders an, in dem er auch seinen Mann das ein oder andere Mal erwähnte. Ich bemerkte das Handy in meiner Hosentasche vibrieren, zog es raus und musste grinsen, als Samu mir ein Bild mit einem wirklich großen Stapel Papier schickte. Ich fotografierte meinen halbleeren Teller und schrieb „schmeckt nicht" darunter.
„Maybe the movie would be better", antwortete er schnell.
„Hope so :-) What are you doing with that papers?"
„Mikko is sick. But somebody muss machen die agreements mit die guys von ContraPromotion."
„Tour?"
„Yes. We start in May and die agreements müssen finish sein tomorrow morning."
Immer, wenn wir schrieben, hörte es sich so an, als würde er nur aus Höflichkeit antworten. Selten fragte er von sich aus, wie mein Tag gewesen war. Ich war da um einiges offener, wie ich fand. Ich schrieb ihm gerne morgens und fragte ihn nach seinen Plänen für den restlichen Tag.
Mir war unklar, wie Samu die Verträge durcharbeiten wollen würde. Die musste ja auch irgendjemand lesen, bevor man sie unterschrieb und eine Waschmaschine kaufte.
Sein kompletter Schreibtisch wurde von den Unterlagen verdeckt. Als würde er seine Steuererklärung machen.
„Alles ok, Süße?", Jan griff quer über den Tisch, um meine Hand zu berühren, die an dem Glas ruhte, „was hältst du von dem Film?"
„Ich hab gerade nicht zugehört, sorry", gab ich zu und lächelte Daniel an.
„Das hab ich wohl gemerkt", griente Jan und tippte mir auf die Fingerkuppen.
„Ich hab den ersten Teil nicht gesehen", meinte mein Zwilling.
„Um was geht es denn?", warf ich verwirrt ein und trank einen Schluck Apfelschorle.
„Die Croods", sagte Jan trocken, „aber den zweiten Teil."
„Ich hab den ersten Teil leider auch nicht gesehen", ich schüttelte entschuldigend den Kopf.
„Dann schauen wir uns einen Film bei dir an?", fragte Jan und legte seine Hände auf die Oberschenkel.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Und ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken daran, dass Jan Daniel nicht mochte. Nicht, weil er seinen Humor nicht teilte, sondern weil er mit einem Mann verheiratet war.
„Lieber nicht. Ich hab noch viel zu tun und eigentlich ist mir auch gar nicht danach", formulierte ich ehrlich.
Daniel nickte und sah mich von unten an. Als würde er spüren, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Ich muss auch nochmal zurück in die Redaktion. Der Artikel für die Kinderseite ist noch nicht fertig."
„Stimmt was nicht?", Jan runzelte die Stirn.
„Du weißt, was nicht stimmt", antwortete ich knapp, stand auf, drückte meinem Bruder einen Kuss auf die Stirn und verließ das italienische Restaurant, ohne Jan Beachtung zu schenken.


Ich sah den Wald vor lauter Papier nicht mehr. Ich blätterte mich durch die Unterlagen, unterzeichnete die Verträge und räumte sie auf den anderen Stapel. Aber irgendwie schien sich die Menge der Stapel nicht zu reduzieren. Ich brauchte eine Pause. Angeln wäre passend gewesen.
Oder Bogenschießen.
Oder Sex.
Ja.
Sex wäre gut.
Weil ich in Berlin keinen bekommen hatte.
Ich wühlte auf dem vollen Schreibtisch nach meinem Handy und schmiss dabei die bereits unterschriebenen Verträge herunter. Wütend pustete ich die Wangen auf, stampfe mit dem Fuß und erblickte das Smartphone auf dem Mischpult auf der anderen Seite des Studios.
Ich drehte mich einige Male um die eigene Achse, während ich mein Adressbuch nach einer geeigneten Sexpartnerin durchsuchte. Am oberen Rand blinkte plötzlich eine Nachricht von Emma auf: „Kein Kino. Redaktion. Bist du schon fertig?"
Ich schloss die Kontaktapplikation und wechselte in das Nachrichtenfenster.
„Trouble. Searched my mobile, throw the stuff on the floor."
„Alles neu sortieren?"
„I have to :-( Why no cinema?"
„Nothing to speak of ;-)", schrieb sie, „Have to write an article about Albert Einstein for the kids. I'm overtaxed."
Ich schmunzelte, weil ich genauso wenig Ahnung von Physik hatte wie Emma. Ich wusste, wer der Begründer der Relativitätstheorie war. Aber das war es auch schon.
„Have a nice day, bye! ;-)", antwortete ich lachend, sperrte die Tasten und warf das Handy wieder zurück auf das Mischpult. Dabei landete es leider mit dem Display auf einem der Regulierungsknöpfe. Ich schickte Stoßgebete gen Himmel und hoffte, dass es nicht zersplittert war. Wie ein Panther schlich ich in gebückter Haltung zum Mischpult, drehte das Smartphone zu mir und knirschte mit den Zähnen, als ich die gesprungene Scheibe des Displays sah. Es musste in Reparatur. Sofort. Ich war auf dieses Teil angewiesen. Allein, weil ich keine der Nummern im Kopf hatte. Ich wischte die abgesplitterten Scherben auf den Boden, suchte in meinen Kontakten nach der Kundenhotline meines Mobilfunkanbieters, bei dem ich die Handyversicherung abgeschlossen hatte und musste eine schier unendliche Ewigkeit warten, bis ich mit einem Mitarbeiter verbunden wurde. Ich wirkte vermutlich etwas panisch, weshalb mich der Mann am Telefon versuchte zu beruhigen. Es sei nur ein kaputtes Display, das sei innerhalb eines Tages repariert. Leider hatte er zur Zeit keine Handys zum Auswechseln da, so dass ich wohl oder übel 24 Stunden ohne auskommen musste. Eine schlechte Idee, wie mir schien. Die andere Möglichkeit wäre gewesen mit einem kaputten Smartphone herumzulaufen. Aber dafür war ich zu eitel. Ich würde auch keinen BWM mit Kratzern fahren.
„Bäh :b – Have fun with the papers!", schrieb Emma, als ich mich auf dem Fahrersitz des BMWs fallen ließ, bevor ich mich auf den Weg in die Stadt machte, um mein Handy in einem der Mobilfunkläden abzugeben.
Zerbrochenes Display, einen Stapel voller Papiere und keinen Sex. Besser konnte mein Tag nicht werden.


Ich reagierte nicht auf Jans Anrufe auf meinem Handy. Ich konnte nicht so tun, als sei alles in Ordnung. Das war es nicht. Bei dem Essen mit Daniel hatte er sich gut angestellt, aber weil ich wusste, wie er in Wirklichkeit über ihn dachte, nahm ich ihm die gespielte Interesse und Freundlichkeit nicht ab. Immer wieder hatte ich die Befürchtung, Jan würde Daniel während der Unterhaltung mit einer kleinen Taschenbibel bewerfen wollen um ihn zu bekehren.
Noch stundenlang hing ich über dem Artikel über Albert Einstein. Schrieb ihn um, fügte Fakten hinzu, löschte ganze Abschnitte und hatte letztendlich nicht mehr als meinen Einleitungssatz. Mir fehlte die Kreativität, um Kindern diesen Physiker schmackhaft zu machen, wenn ich selbst kein Fan war.
„Wie weit bist du?", Thomas steckte interessiert den Kopf in mein Büro.
Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
„20 Minuten noch. Bekommen Sie das hin, Madame?", ironisch zog er die Augenbrauen hoch.
„Haha", meinte ich lächelnd, „natürlich."
„Wunderbar. Weitermachen", grinste er und schloss die Tür hinter sich.
Ich fuhr mir nervös durch die Haare und begann den Nagellack an meinem Daumen abzuknibbeln. Nochmal wühlte ich mich durch meine im Vorfeld gemachten Notizen und suchte nach irgendwas, was mich als Kind dazu begeistert hätte, einen Artikel über Albert Einstein zu lesen.
Irgendwas spannendes.
Etwas Aufregendes.
Nachdenklich leckte ich mir über die Lippen und zwirbelte eine rote Haarsträhne zwischen meinen Fingern ein.
Nichts.
Mein Kopf war vollkommen leer. Ich hatte nicht eine einzige Idee. Hätte ich bloß damals in der Schule besser aufgepasst. Dann hätte ich vielleicht gewusst, wie man jemandem Albert Einstein schmackhaft machen konnte.
Just in diesem Moment wünschte ich mir eine Katze, deren Kopf ich streicheln konnte.
Katze.
Mein Kopf begann plötzlich wie wild zu rattern.
Da gab es doch irgendwas mit einer toten oder nicht-toten Katze.
Ich setzte mich gerade hin und googelte „nicht-tote Katze Physik". Und tatsächlich.
Schrödingers Katze.
Damit konnte ich beginnen. Katzen wollte schließlich niemand tot sehen. Es sei denn, man hatte eine Allergie.
„Now it works! :-D What about you?", schrieb ich Samu, klemmte mich hinter den Artikel und bekam auch bis zum späten Abend keine Antwort auf meine Nachricht.

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