Und auch ich rang mit mir

499 18 0
                                    

Nachdem mein Handy mich bereits zum zweiten Mal sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte, quälte ich mich aus meinem warmen Bett, taumelte in die Küche, schaltete das Radio ein und drückte auf den Knopf des Wasserkochers. Ich zog die Rollladen im Wohnzimmer hoch, während ich auf das heiße Wasser wartete und wurde prompt von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne an der Nase gekitzelt.
Sunrise.
Von Samu war weit und breit keine Spur. Aus Provokation hatte ich am selben Abend noch mein Anzeigebild geändert. Es zeigte jetzt –statt des Schriftzuges „You're like Monday, nobody likes you"- ein Foto meines Disneytattoos am Fuß.
So verzweifelt war ich noch nicht, dass ich der Welt ein Foto von Jan und mir präsentieren musste, so wie Samu es tat.
So schnell ich gedacht hatte, ich würde mich wieder in ihn verlieben, so schnell war das Kribbeln in meinem Bauch auch wieder verschwunden. Wahrscheinlich war ich auf Grund der Hormone gefühlsduselig geworden.
Als ich aus der Dusche kam und mir hastig die Wimpern tuschte, dachte ich über den Verlauf meines Arbeitstages nach. Kurz in Redaktion, Mails beantworten, die nächsten Termine in meinen Kalender eintragen, weil ich es die Woche über vergessen hatte, Kamera aus Thomas Büro holen und dann in die Zeche Bochum; zu dem Geheimkonzert von Sunrise Avenue. Das Lokalradio hatte die Jungs zu einem Auftritt vor knapp 300 Fans überreden können und hatte Tickets unter den Zuhörern verlost. Auf dem Weg zur Arbeit hatte ich die ein oder andere Auslosung mitbekommen. Meistens waren die Gewinnerinnen Frauen, Mitte 20 bis Anfang 30, die laut kreischten, als der Moderator ihnen mitteilte, dass sie einer der glücklichen 300 Menschen waren. Für die ansässigen Zeitungen waren Karten zurückgelegt worden, so dass auch wir die Möglichkeit bekamen, ein Teil dieses Konzerts zu sein.
Eines Morgens kam ich ins Büro und sah zwei „Area all access"-Pässe an dem Monitor meines Rechners baumeln. Sofort war ich in Thomas Büro geeilt, um ihm den Pass zurückzugeben.
Frauke sollte das machen.
Ich war fertig mit der Band, mit Samu.
Ein für alle mal.
Frauke erzählte mir, dass Thomas bei ihr über den Artikel mit Niila geschwärmt hatte, obwohl ich keine Bilder des Konzerts beisteuern konnte. Weder Samu noch Niila hatten sich deswegen nochmal bei mir gemeldet. Ehrlich gesagt, hatte ich auch vergessen, danach zu fragen. Felix mied ich, weil ich nicht wollte, dass er eine Gegenleistung erwartete, wenn er irgendwann in Deutschland war. Er war für mein Empfinden an Samus Geburtstag zu flirty gewesen, als dass ich da nochmal nachhaken und Kontakt aufbauen wollte für ein paar Fotos. Glücklicherweise wollte mein Chef die Bilder des Konzerts gar nicht haben, weil er die aus Samus Haus intimer und ehrlicher fand. So, wie Finnen halt seien.
Wenn er sich da mal nicht getäuscht hatte.
Ich war wirklich nicht heiß darauf, Samu bei einer Veranstaltung zu begegnen. Er sollte nicht denken, dass ich seine Termine abpasste oder meine so legte, dass ich ihm zwangsweise über den Weg laufen musste.
Außerdem war sein Verhalten unterste Schublade.
So ging man nicht mit einem Menschen um.
Nicht mal er.
Aber Thomas ließ nicht locker, verdonnerte mich regelrecht und drohte damit, mir meinen Urlaub zu streichen, wenn ich nicht hingehen würde. Ich hatte schließlich DEN Kontakt zu den Bandmitgliedern.
Falsch gedacht.
Diesen sollte ich gefälligst nutzen, um etwas Vernünftiges damit anzustellen. Ich willigte mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ein, unterschrieb einen Verschwiegenheitsvertrag bezüglich der Location für den Radiosender und verstaute die zwei Pässe in meiner Handtasche.
Da lagen sie immer noch.
Und je näher dieser Termin rückte, desto nervöser und aufgeregter wurde ich.
Ob es reichen würde, ein paar Fotos von dem Konzert zu machen, ohne mit Samu reden zu müssen?
Jan hatte mich während seiner Nachtschicht zugespammt. Ich hatte ihn gefragt, ob er mich zum Konzert begleiten wollen würde, weil Leni irgendwelche Klausuren zu korrigieren hatte und Marius ein romantisches Wochenende geplant hatte. Außerdem wollte ich ihr mit diesem leidigen Thema nicht auf den Geist gehen. Gerade weil wir uns –nachdem ich ihr geschrieben hatte, dass Samu Geschichte sei- wieder besser verstanden.
Selbstverständlich war sie nicht begeistert. Aber weil ich es für die Zeitung tat und damit wirklich kein Vergnügen verbunden war, nahm sie es mit etwas Galgenhumor.
Wie ironisch es sei, dass ich wieder auf ihn treffen würde, nachdem wir uns so lange nicht gesehen hatten; ich hatte ihr nicht erzählt, dass er den Kontakt zu mir komplett auf Eis gelegt hatte.
Jan und ich verbrachten viel Zeit miteinander und waren uns wieder näher gekommen. Wahrscheinlich waren wir uns noch nie so nah wie zu diesem Zeitpunkt. Er lud immer wieder Daniel und Julian zum Essen bei sich ein, um mir zu signalisieren, dass er kein Problem mehr mit der Lebensweise meines Bruders hatte. Julian hatte mittlerweile einen Narren an Jan gefressen und traf sich manchmal auch ohne Daniel und mich mit ihm, um Fußball zu schauen.


Wir betraten die Zeche Bochum durch den Personaleingang auf dem hinteren Parkplatz und wurden von dem Geschäftsführer Horst freundlich in Empfang genommen.
„Emma, richtig?", er schüttelte meine Hand, „so schnell sieht man sich wieda. Schön, dasse da bis. Dich vergessi au nich. Alleine wegen deine Haare."
„Ich freu mich auch", grinste ich und deutete auf Jan, „das ist Jan."
Die Männer nickten sich zu.
„Bisschen zu fein für diese Veranstaltung, nich wahr?", lachte Horst und zupfte an Jans blauber Krawatte, „die Band kommt au nich im Anzug."
„Wissen Sie das schon?", schmunzelte ich.
„Der mit den Locken, weisse?", Horst schnippte fordernd mit den Fingern.
„Riku?"
„Ricku, ja. Der hat sich gerade nomma umgezogen. Dat sah für mich jetzt nich nach Hemd aus."
„Wenigstens einer muss ja gut aussehen", lächelte Jan gekünstelte und zog mich an der Hüfte zu sich.
Ich gab ihm einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen, während Horst die Augenbrauen hochzog.
„Wie au immer", fuhr der Geschäftsführer fort, „ihr habt 'n Pass. Geht hin, woa wollt. Getränke gehen auf mich."
„Vielen Dank", nickte ich ihm freundlich zu und wurde augenblicklich von Jan in die Halle manövriert.
Auf der Bühne war soweit alles hergerichtet. Fehlte lediglich die Band. Ich holte die Kamera aus meiner Umhängetasche und schoss einige Fotos, um später einige Vorher-Nachher-Bild zu haben. Jan hatte sich sofort an die Bar verzogen und zwei Flaschen Moritz Fiege Bier geordert. Er drückte mir eine in die Hand, stieß mit seiner Flasche gegen meine und kippte das hopfenhaltige Getränk herunter.
„Was passiert hier jetzt?", fragte er nach und lockerte den Knoten seiner Krawatte.
„In 30 Minuten werden die Leute reingelassen und dann kommt die Band", antwortete ich.
„Und dann?"
„Dann mach ich Fotos, warte, bis das Konzert vorbei ist und geh dann nochmal Backstage."
„Alles klar, bin dabei", grinste er, streckte einen Daumen nach oben und küsste meine Schläfe, „den Platz können wir uns aussuchen?"
„Du kannst dich dahinten hinsetzen, wenn du willst. Aber ich muss hier bleiben, damit ich 'n paar gute Fotos bekomme."
„Ich bleib hier, ist kein Problem."
„Jan", ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf, „ich weiß, dass du nur wegen mir hier bist und die Musik, sowie die Leute, eigentlich doof findest. Ich werd mich nicht mit dir unterhalten können, weil ich mir Notizen machen muss."
„Dann ist es in Ordnung, wenn ich mich etwas abseits setze und mich volllaufen lasse?"
Ich kicherte.
„Klar. Du hast ja frei. Aber pack den Pass weg", ich tippte auf die Plastikkarte um seinen Hals, „nicht, dass dich irgendwelche Groupies beklauen und die Jungs hinterher nackte Mädchen hinter der Bühne haben."
„Gott, deswegen liebe dich ich", meinte er erleichtert, küsste meine Stirn und ließ den Backstagepass in seiner Hosentasche verschwinden.
Wir lehnten an dem runden Holztisch links vor der Bühne und warteten auf die ersten Gäste. Nach und nach gesellten sich Journalisten anderer Zeitungen hinzu und je später es wurde, desto mehr Bauchschmerzen bekam ich.
Ich wollte wirklich nicht hier sein.
Aus Überzeugung nicht.
Immer wieder sagte ich mir, dass es mein Job war.
Ohne Erfolg.
Genauso wie das Interview am Anfang des Jahres, was Samu gehörig versaut hatte.
Als die ersten Fans in den Saal stürmten, um sich einen Platz in der ersten Reihe zu sichern, besorgte Jan mir eine weitere Flasche Bier und verabschiedete sich dann an einen Tisch im hinteren Bereich.
„Ist hier noch frei?", fragte mich eine hübsche Blondine mit einem Bier in der Hand und klopfte auf den Tisch.
„Fan oder Journalist?"
Sie runzelte ungläubig die Stirn.
„Ist das eine Fangfrage?"
„Ich will nur sicher gehen, dass Sie mir nicht ins Ohr brüllen, sollten Sie ein Fan sein", lächelte ich freundlich.
„Ich springe Ihnen höchstens vor die Linse, wenn Sie ein Foto mache", ergänzte sie und zeigte mir das rote Bändchen des Backstagepasses um ihren Hals.
Ich verbeugte mich und winkte sie näher.
„Von weiter weg?"
„Kann man so sagen. Sie?"
„Ortsansässig."
Wir nippten beide an unseren Bierflaschen.
„Aber Fan?", schielte sie zu mir herüber.
„Sehe ich so aus?"
„Ich sehe kein „Forever yours"-Tattoo", kombinierte sie, „aber Sie scheinen aufgeregt. Sie wippen von links nach rechts um trommeln auf dem Tisch rum."
„Ich schreibe sonst eher über Museen. Ganz so oft habe ich es nicht mit internationalen Künstlern zu tun."
„Würden Sie lieber?"
„Von welcher Zeitung kommen Sie?", wollte ich wissen.
„Warum?"
„Wollen Sie mich abwerben?"
„Auf keinen Fall! Ich fragte aus Interesse!", lachte sie.
„Wer will das nicht?", prostete ich ihr zu und grinste.
„Aber Fan?"
„Sind Sie einer?"
„Der Sänger ist heiß", schmunzelte sie und nahm einen großen Schluck Bier.
„Das stimmt wohl."
Die Blondine beugte sich zu mir und winkte mich näher zu sich.
„Deswegen sind diese ganzen aufgeregten Weiber doch hier. Es geht doch schon lange nicht mehr um die Band. Spätestens seit „The Voice of Germany" hat das Ganze ein negatives Ausmaß angenommen."
„Ja", ich tippte mir an den Kopf, „alle zwölfjährigen Mädchen wollen ein Kind von Samu. Das ist doch krank."
„Vor allem ist das strafbar", lachte sie hell und steckte mich mit ihrem angenehmen Lachen an, „als ich aus dem Auto gestiegen bin, musste ich an der Schlange vorbei. 300 aufgebrachte Frauen, die Samu auf der Stirn stehen haben. Gruselig."
„Und wenn es nicht auf der Stirn steht, dann auf der Wange", fügte ich hinzu.
„Ich bin Estefania", sie streckte mir die Hand entgegen.
„Emma", grinste ich und schüttelte ihre Hand, „Estefania wie die Ex vom Bohlen?"
„Warum bleibt mir das nicht erspart", sie warf den Kopf in den Nacken und riss die Arme theatralisch in die Luft.
Plötzlich fing eine dieser aufgeregten Frauen hinter uns tierisch an zu schreien. Reflexartig schauten wir auf die Bühne.
Tatsächliche hatte Sami den Weg zu seinem Schlagzeug gefunden, setzte sich und winkte einmal in die Menge. Sofort sah man die Blitze der Handykameras aufleuchten; und auch Estefania und ich zückten die Kameras, zoomten ran und versuchten, ein perfektes Bild des Drummers zur ergattern. Glücklicherweise saß Sami relativ still auf seinem Hocker und lächelte in die Runde, so dass die Schnappschüsse gut wurden.
Nach Sami kam Raul, welcher nicht mit weniger Applaus begrüßt wurde. Anschließend kam Riku mit seiner Gitarre um den Hals aus dem Bereich hinter der Bühne, angelte eines der Handys aus der ersten Reihe und machte einige Fotos mit dem Publikum, ehe er es wieder zurückgab. Bevor Osmo sich hinter das Keyboard stellte, ging er an das Samus Mikrofon, tippte dreimal darauf, sagte „Test Test Test" und verbeugte sich dann für diese Glanzleistung.
Humor hatten sie alle; das musste man ihnen wirklich lassen.
Trotz der Masse an Auftritten, die sich jedes Jahr absolvierten, schien es für sie nie das gleiche Gefühl zu sein. Und ich wettete, dass das ein Grund war, warum die Fans sie so vergötterten.
Auch, wenn die meisten heute Abend für Samu da waren.
Nachdem ich das Foto von Osmos Verbeugung mit dem süffisanten Grinsen gemacht hatte und die Kamera auf den Tisch sinken ließ, trafen sich unsere Blicke, als der Keyboarder die einzelnen Augenpaare in der Halle abscannte.
Seine Augenbrauen, ebenso wie seine Stirn, schienen eigefroren zu sein.
Er hatte nicht mit mir gerechnet.
Ich lächelte, hob die Hand und winkte ihm angedeutet mit den Fingern zu; er nickte nur und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Die Masse tobte, als Samu mit Dreitagebart, nach hinten gegelten Haaren, in einem weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, dunkelblauen Jeans, schwarzen Chucks und einem verschmitzten Grinsen auf die Bühne kam.
Und auch ich rang mit mir.
Er sah verboten gut aus.
„Ich sag doch, dass er heiß ist", tippte Estefania mir auf die Schulter und hielt die Kamera knipsend in die Höhe, „mach den Mund zu."
Ich schlug die Zähne aufeinander und presste beide Hände vor den Mund.
Oh mein Gott.
Er sah verdammt heiß aus.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt