Frohe Weihnachten!

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Der Abschied am Flughafen war alles andere als freundlich. Wir liefen schweigend zu unseren Autos und schenkten uns keinerlei Beachtung. Leni umarmte Jan, während sie mich fixierte, um mir einen feindlichen Blick zuzuwerfen.
Das Gespräch im Flugzeug war eine einzige Katastrophe gewesen. Aus einem für mich unerklärlichen Grund versuchte sie mich dazu zu überreden, Jan von dem Wochenende bei Samu zu erzählen. Wenn ich noch Kontakt zu ihm gehabt hätte und wir uns regelmäßig getroffen hätten, wäre Lenis Verhalten nachvollziehbar gewesen und dann hätte ich auch etwas gesagt. Aber jetzt? Warum? Es hätte nicht noch besser zwischen mir und Jan laufen sollen; warum genau das also „zerstören" und was vollkommen Belangloses breit treten, was für mich keine Rolle mehr spielte?
Ich war fertig mit Samu.
Weder liebte ich ihn, noch empfand ich Hass.
Er war mir ganz einfach vollkommen egal.
Nicht zuletzt, weil meine beste Freundin alles Erdenkliche dafür getan hatte.
Ich musste mir eingestehen, dass ich an ihn gedacht hatte, nachdem Jan eine Bemerkung zu meinem Tattoo gemacht hatte.
Und als Leni mich im Flugzeug auf Samu angesprochen hatte.
Natürlich war es komisch, ihn bei dem Interview und in der Sauna zu treffen und ja, das tat weh. Allerdings hatte mir die letzte Zeit und allem voran das letzte Wochenende gezeigt, dass ich darüber hinweg war und ihn nicht brauchte, um glücklich zu sein. Er spielte keine Rolle mehr in meinem Leben und war ein Stück meiner Vergangenheit, die ich nicht leugnen konnte.
Das Wochenende hatte es gegeben.
Punkt.
Das war alles.
Düsseldorf lag schon mehrere Minuten hinter uns, als mein Handy in der Tasche auf der Rückbank klingelte. Schnell griff ich danach, nahm es aus dem Weekender und las die Nachricht ohne die Applikation öffnen zu müssen.
„Keine Lust auf Silvester mit dir", schrieb Leni kurz. Ich unterdrückte ein verächtliches Lachen.
„Alles ok?", Jan sah bestürzt zu mir rüber, weil es für ihn so ausgesehen haben musste, als hätte ich mir einen Witz erzählt.
„Ich werde Silvester wohl arbeiten gehen, wenn Thomas' Angebot mit der Radioparty noch steht", schmunzelte ich und warf das Smartphone zurück in die Tasche, „Leni hat keine Lust mehr auf die Silvesterparty mit mir."
Er guckte wieder auf die Straße und zuckte mit den Schultern.
„Wieso nicht?"
„Ach, ist unwichtig. Ich will da auch nicht weiter drüber reden oder nachdenken. Lass uns einfach nach Hause fahren."
„Sag doch bitte, was los ist. Ich bin dein Freund."
„Wir haben uns gerade im Flugzeug gestritten", sagte ich kurz.
Jan brachte mich mit seiner Fragerei in die Bredouille. Hinterher musste ich doch sagen, was genau das Problem gewesen war.
Er legte die Hand auf meinen Oberschenkel und streichelte diesen.
„Wenn du darüber reden willst, dann komm, ok?", aus dem Augenwinkel heraus sah er mich an, „jederzeit. Auch nachts um drei."
„Auch um vier?"
„Oh", er biss die Zähne zusammen und sog Luft ein, „um vier ist schlecht. Aber sonst immer."
„Danke", zwinkerte ich erleichtert.
„Du hast da Kajal", er deutete mit der Fingerspitze unter mein Auge, „wenn sich das nicht aufklärt, dann kannst du auch mit mir und der Mannschaft feiern."
„Das ist euer Abend", ich lehnte mich zu ihm herüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich die schwarzen Farbpigmente im Spiegel begutachtete, „das wäre doch doof, wenn ihr nicht über eure Frauen herziehen könnt, weil eine von denen anwesend ist."
„Wir lästern nicht!"
„Natürlich tut ihr das", wieder gab ich ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.
„Wir stellen fest. Das ist ein enormer Unterschied."
„Mir macht das nichts aus, arbeiten zu gehen."
„Mir aber vielleicht?"
„Warum?"
„Weil ich eigentlich nicht will, dass meine Freundin den letzten Tag des Jahres auf irgendeiner doofen Silvesterparty eines Radiosenders rumhängt, besoffene Leute interviewt und sich dann noch in die Redaktion schleicht, um den Artikel für die kommende Ausgabe zu tippen."
„Aber das wäre mal was anderes als das ewige Gesaufe."
„Du willst das echt machen?", er zog die Augenbrauen hoch.
Ich nickte, legte meine Hand auf seine und schaute die restliche Fahrt über aus dem Fenster.


Wahnsinnig motiviert und überdurchschnittlich ausgeschlafen kam ich am nächsten Morgen in die Redaktion und begrüßte jeden, den ich auf dem Flur begegnete.
Leni hatte sich kein weiteres Mal gemeldet und so war ich zu dem Entschluss gekommen, meinen Chef zu fragen, ob das Angebot mit der Silvesterparty noch immer stand. So könnte ich meine selbstkonzipierte Musiktherapie auch endlich in Angriff nehmen.
In meinem Büro fuhr ich den Rechner hoch, bearbeitete einige E-Mails, durchforstete das Programm des Schauspielhauses nach Premieren oder Stücken, die letztmalig aufgeführt wurden und beschaffte Weihnachtsgeschenke für meine Familie und Freunde.
Meinem Zwilling Daniel erstand ich eine T-Shirt Falthilfe, da er mit seinen 26 Jahren immer noch nicht in der Lage war, Oberteile vernünftig zu falten. Auf der Internetpräsenz eines britischen Pflegeartikelherstellers bestellte ich ein Pflegeset für reife Haut für meine Mutter und für Leni ein Set aus Körperbutter und –peeling, Eau de toilette und Lipbutter in der Geschmacksrichtung Granatapfel. Selbst wenn sie mich nach Weihnachten, nach Silvester und nach Ostern immer noch hassen würde. Irgendwann kam ihr Geburtstag und zu dem würde sie mich ganz sicher einladen, nur um mir zu zeigen, wie toll ihre Partys immer waren. Mein Vater und Julian mussten sich dieses Jahr mit einer gemeinsamen Whiskeyverköstigung zufrieden geben, weil mir etwas anderes nicht eingefallen war und ich keine Lust hatte, wieder kurz vor knapp durch die völlig überfüllte Innenstadt zu hetzen.
Dann war da noch Jan.
Jan.
Was sollte ich ihm schenken? Schenkten wir uns überhaupt etwas?
Ich wollte ihn ungern mit zu der Whiskeyverköstigung schicken, weil er weder meinen Vater noch Julian bisher kennengelernt hatte. Dieses Treffen hatte ich mir für die Weihnachtsfeiertage aufbewahrt.
Ich zückte mein Handy und schrieb ihm eine Nachricht.
„Beschenken wir uns an Weihnachten?"
Keine Minute später bekam ich eine Antwort.
„Ich hab schon was für dich. Aber ich brauche nichts."
Das war wieder typisch. Bloß bescheiden sein. Das konnte ich nicht so stehen lassen. Und wenn es nur eine Kleinigkeit war.
Ich klickte mich durch eBay, Amazon und diverse andere Seiten auf der Suche nach irgendetwas, was zu ihm passen würde.
Was schenkte man einem Fußballer?
Einen Fußball?
Schuhe?
Ein Trikot?
In einem Geschenkeshop wurde ich fündig und orderte einen Schokoladenfußball und einen 100 Euro-Gutschein für den Fanshop des St. Paulis, seiner Lieblingsmannschaft.
Wenig später war das Geschenkeshopping abgeschlossen und ich wollte mich für meinen unermüdlichen Einsatz mit einer Zigarette belohnen. Gerade als ich den braunen Mantel überwarf, um vor die Tür zu gehen, sah ich, wie Thomas mit den Sportredakteuren in Richtung des Aufzugs ging. Ich wartete einige Sekunden ab, steckte die Packung Gauloises in die Tasche und folgte der Gruppe unauffällig.
„Ach hallo", versuchte ich möglichst spontan zu sagen, als ich vor dem Aufzug zum Stehen kam, „wohin des Weges?"
„Essen", sagte einer der Sportredakteure.
Ich nickte.
„Thomas, könnte ich dich kurz etwas fragen?"
„Ja bitte?", er rückte seine Jacke zurecht, als der Lift auf unserer Etage hielt.
„Hast du mittlerweile jemanden für die Silvesterparty in der Zeche?"
„Bisher nicht, weshalb?"
„Ich würde das gerne machen. Auch, wenn das Interview mit dem Frontsänger von Sunrise Avenue schlecht gelaufen ist. Ich würde das gerne wieder gut machen."
„Vielleicht ist der dann aber auch da", witzelte er und stieß einem der Jogginghosenträger gegen den Oberarm, der daraufhin auch lachte.
Schleimer.
„Also?", unbeeindruckt drückte in den Knopf ins Erdgeschoss, nachdem wir eingestiegen waren.
Er nickte zustimmend und kratzte sich das Kinn.
„Ich kümmere mich nach dem Essen darum, in Ordnung? Normalerweise sollte das aber kein Problem sein."
„Dankeschön", lächelte ich freundlich und hielt die Luft an, als sich die Türen des Fahrstuhls schlossen.


Die letzten zwei Wochen vor Weihnachten waren die Hölle. Drei Theaterstücke, vier Berichte über die Weihnachtsmärkte in der Region und ein Museumsbesuch standen auf meiner Agenda. Hinzu kam die Silvesterparty des städtischen Radios in einer Bochumer Diskothek, Weihnachtsbaumkäufe und Dekorationsabende. Das Gefühl einer Weihnachtsdepression beschlich mich jedes Mal, wenn ich glückliche Paare in der Stadt Paradiesäpfel essen sah oder der tausendste falsche Weihnachtsmann mir schöne Feiertage wünschte. Was war mit diesen Menschen los? Waren sie alle in einer Firma angestellt, die ab dem 01.12. Urlaub an seine Mitarbeiter verschenkte? Alles war unglaublich besinnlich und friedlich, während ich von Termin zu Termin hetzte und mir bereits morgens unter der Dusche ausrechnete, wie viel Zeit ich hatte, um die restliche Weihnachtsbeleuchtung am Treppengeländer vor dem Hauseingang anzubringen, wenn ich noch zwei der vier Weihnachtsmärkte abklappern musste.
Ich war der festen Überzeugung, dass es ausreichend war, Mittwochmorgen, am 20.12., einzukaufen, ehe ich mich ein letztes Mal in das Schauspielhaus quälte, um einen Artikel über das angebotene Kindertheaterstück zu verfassen. Leider war ich nicht der einzige Mensch, der morgendliches Einkaufen für sinnvoll hielt.
Mein Freund Jan hingegen war die Ruhe selbst. Er musste zu Hause nicht schmücken, weil er Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag arbeiten musste. Zudem kam seine Familie aus der Nähe von Trier und die war über Weihnachten damit beschäftigt, die gesamte Verwandtschaft zu bekochen.
Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht und einen Christbaum besorgt. Jedoch half er mir einen Tag vor Weihnachten noch beim Schmücken meiner kleinen Nordmanntanne.
Den Heiligen Abend verbrachte ich mit meinen Großeltern väterlicherseits bei meinem Vater Anton. Daniel und ich waren die letzten Jahre dazu übergegangen, unsere Eltern an den Feiertagen im Wechsel zu belästigen. Bei Papa war es immer traditionell schwedisch. Unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum stand ein Strohbock, der sogenannte Julbock und zum Essen gab es ein reichhaltiges Buffet aus mariniertem Hering, Kartoffeln, Fleischklößen, Salat, verschiedene Sorten Wurst und Käse. Vor der Bescherung stellten wir eine Schüssel aus süßem Milchbrei für den Hauswichtel Tomte vor die Tür, der das ganze Jahr seine schützenden Hände über das Haus gehalten hatte. Wenn das Gefäß am nächsten Morgen leer war, hat es dem Wichtel geschmeckt und alle Bewohner konnten sich über ein weiteres Jahr voller Unterstützung freuen. Glücklicherweise musste ich mir schon als kleines Kind keine Gedanken darum machen, was passieren würde, sollte die Schale am nächsten Morgen noch voll sein. Meine Eltern hatten immer darauf geachtet, die Schüssel auszuleeren, während Daniel und ich schliefen.
Diese Weihnachtsabende waren für mich immer etwas ganz besonderes. Ich war viel mehr in diesem Schweden-Rausch als Daniel, interessierte mich mehr für Bräuche und die Kultur. Er hingegen war froh, wenn er Kartoffelsalat mit Bockwürstchen verspeisen konnte und sich nicht weiter mit irgendwelchen Wichteln beschäftigen musste. Für mich hatte all das etwas magisches, was ich auf keinen Fall verpassen wollte. Egal, ob ich sechs oder 26 Jahre alt war.
Am ersten Weihnachtsfeiertag waren meine Eltern und ich bei Daniel und Julian eingeladen. Wir würfelten, wer als erstes sein Weihnachtsgeschenk auspacken durfte, aßen sehr deftig zu Abend und schauten uns dann gemeinsam einen Film an, den Julian Daniel geschenkt hatte. Auch das gehörte jedes Jahr irgendwie dazu. Aber das war ein Brauch, mit dem Daniel gut leben konnte.
Der 26. Dezember startete für mich in aller Herrgotts Frühe. Ich beauftragte Jan mit dem Schippen des Schnees vor der Haustür, bevor ich ihn für eine heiße Dusche zurück in die Wohnung ließ und derweil den Tisch eindeckte. Er war noch am späten Abend des Vortags vorbeigekommen, um auf keinen Fall zu spät zum Essen zu erscheinen und einen guten ersten Eindruck bei meinen Eltern und meinem Bruder zu hinterlassen.
Als hätte ich bereits im Vorfeld gewusst, dass wir uns an den Weihnachtstagen maßlos überfressen würden, hatte ich für mein Weihnachtsessen vegetarische Kost geplant. Ich setzte auf selbstgemachte Tortilla mit Oliven, rote-Bete-Ravioli mit Walnussbutter und Tomatensalat und Mozzarella, dazu reichte ich ein fruchtiges Honigdressing und als Dessert servierte ich Erdbeer-Tiramisù.
Das Essen verlief sehr ruhig und harmonisch. Meine Eltern, ebenso wie mein Schwager und mein Bruder verstanden sich ausgezeichnet mit Jan. Diese Hürde hatte er also mit Bravour gemeistert.
Während ich mit Jans Hilfe die Küche auf Vordermann brachte, saß meine Familie im Wohnzimmer und hielt sich den vollen Bauch.
„Willst du mein Geschenk später auspacken?", wollte Jan wissen und küsste meinen Hals.
„Wann willst du meins auspacken?", ich schloss die Augen und führte seine Hände vor meinen Bauch.
„Jetzt?"
„Jetzt?"
„Jetzt ja?"
„Oberste Schublade Kleiderschrank", grinste ich und freute mich über Jans kindliche Art; sofort stürmte er ins Schlafzimmer und riss hörbar die Türen des Schranks auf.
Mit dem ausgepackten Schokoladen-Fußball unter dem Arm und dem St. Pauli-Gutschein zwischen Zeige- und Mittelfinger kam er zurück in die Küche und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was soll ich mit diesem Gutschein? Spinnst du?", sofort legte er beides auf die Arbeitsplatte, zog mich in seine Arme und verteilte Küsse in meinen Haaren, „danke, danke, danke!"
„Nachdem du mir gesagt hast, dass du was hast, bin ich panisch geworden", lächelte ich in sein rotes Hemd hinein.
„Das ist für dich", er löste die Umarmung und nahm einen Umschlag aus seiner hinteren Hosentasche, „ist leider nur ein Umschlag."
„Ich wäre auch mit weniger zufrieden gewesen, wie du weißt", schmunzelnd öffnete ich das Couvert und zog eine rote Weihnachtskarte mit schwarzer Schrift heraus, „I feel betta with lametta? Ehrlich jetzt?"
„Ich wollte mal was anderes", lachte er, „jetzt lies die Rückseite!"
„Süße, wir fliegen nach Mazagón. Also eigentlich nach Sevilla und dann fahren wir mit dem Bus nach Mazagón. Im März. 12.03 – 15.03. Nur du und ich. Thomas ist informiert und das Hotel bereits gebucht", murmelte ich vor mich hin, bevor ich überhaupt realisieren konnte, was genau ich gelesen hatte.
„Sag irgendwas!", forderte Jan.
„Wann hast du mit meinem Chef gesprochen?"
„Geheim", kicherte er.
„Und du hast echt Urlaub bekommen?"
Er nickte.
„Du bist wahnsinnig!", strahlte ich und schlang meine Arme um seinen Hals.
„Frohe Weihnachten", zärtlich küsste Jan meine Wange.
„Frohe Weihnachten!"

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