Stille

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Die 90er waren mittlerweile vorbei und die Songs der Milleniumwende dröhnten aus den Lautsprechern der Anlage. Als ich gerade nach links ins Wohnzimmer biegen wollte, kam Jan mir von draußen entgegen und fing mich ab.
„Emmchen", flötete er und grinste.
Ich atmete genervt aus, warf den Kopf in den Nacken und ließ mich für einen Moment wie ein nasser Sack hängen.
Jan legte die Hände auf meine Schultern und schob mich daran in Richtung des Schlafzimmers. Ich stemmte mich ihm entgegen und griff an seine Handgelenke.
„Es reicht jetzt", sagte ich bestimmt.
„Bitte?", Jan versuchte mich zu küssen, aber ich wich zurück.
„Es reicht."
„Wir hatten doch noch gar nicht das Vergnügen, mal fünf Minuten ungestört zu sein", er startete einen neuen Versuch; ich ließ seine Handgelenke los, so dass er etwas nach vorne kippte und fast gegen die Schlafzimmertür knallte.
„Was hast du denn, ey?", motzte er, „ich muss doch nicht warten, bis alle Leute weg sind, damit ich meine Freundin mal umarmen oder küssen darf, oder?"
„Du bedrängst mich", begann ich, „ist dir nicht aufgefallen, dass ich schon den ganzen Abend versuche, dir irgendwie aus dem Weg zu gehen?"
„Weil du eine gute Gastgeberin bist und niemanden vernachlässigen willst", grinste er und versuchte nochmal, mich zu küssen.
„Jan", ich pustete entnervt Luft aus und drehte den Kopf weg, „ich hab mich in den letzten Wochen unglaublich gut gefühlt und ich hab mich gefragt, was mit mir falsch gelaufen ist. Warum ich so unruhig und gestresst war."
„Und?"
„Ich weiß jetzt, dass du das warst."
„Ich?", er fasste sich mit beiden Händen entsetzt an die Brust, „ich war gar nicht da, Emmchen."
„Und in der Zeit konnte ich darüber nachdenken, was mich so aus der Bahn geworfen hat, ja."
Er suchte nach Worten. Öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen, schloss ihn dann aber zwei Sekunden später wieder.
„Ich hab keine Lust mehr, mich zu verbiegen", fuhr ich fort, „ich will mir von dir nicht mehr sagen lassen, wie schlimm mein abgeblätterter Nagellack ist, meine Jogginghose oder mein alltäglicher Kleidungsstil. Ich will essen, was ich will und mir nicht anhören müssen, dass ich die Tüten Weingummi oder die Tafel Schokolade nicht hätte essen sollen, weil das direkt auf meinen Hüften landet."
„Weißt du, was du da redest?", fragend zog er die Augenbrauen hoch, „niemand hat irgendwann gesagt, da..."
Ich schnitt ihm das Wort ab.
„Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mich so mögen, wie ich bin. Und sie tun das auch noch, wenn ich nur noch einen Arm oder ein Bein habe."
„Bist du be..."
Wieder stoppte ich ihn.
„Du bist immer nur ein Störfaktor gewesen. Egal, wo wir waren. Ich fühl mich mit dir nicht wohl. Gar nicht. Das alles hat überhaupt nichts mit Liebe zu tun und ich will nicht weiter so tun, als hätte es das und als sei ich die glücklichste Person auf der Welt. Das bin ich mit dir einfach nicht."
„Hat der Alte was damit zu tun?", fuhr er mich böse an.
„Der Alte", ich zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, „ist auf jeden Fall einer der Menschen, der mich auch mit nur noch einem Auge mag. Da bin ich mir bei dir nicht sicher."
„Das ist doch wahnsinnig!", Jan riss die Arme in die Luft, „ich war sechs Wochen nicht da. Du kannst doch nicht sagen, dass du dich besser gefühlt hast, als ich weg war. Das war eine Ausnahmesituation, die nichts mit unserem Alltag vorher zu tun hatte. Vorher waren wir glücklich. Denk doch mal an den Urlaub."
„An den Urlaub?", ich presste die Lippen zusammen, „dein Lethargie-Urlaub, wo du dich einen Dreck darum geschert hast, was ich machen will? Mit der Begründung, dass du bezahlt hast?"
Er sah zu Boden.
„Hörst du dir selbst zu?"
„Ich bin nicht der Typ, der einer Frau hinterher rennt, Emma", Jan verschränkte die Arme vor der Brust, „und ich denke, dass ich das nicht muss. Entweder es klappt, oder es klappt nicht."
„Genau."
„Wir waren glückl..."
„Du", meinte ich, „du warst es vielleicht. Ich nicht."
„Hast du dich nur einmal gefragt, wie ich mich dabei fühle, dass du hier vor allen Leuten meinst, die große Emma herausholen zu müssen?"
„Ehrlich?"
„Das wäre vielleicht jetzt mal angebracht, findest du nicht? Wenn du mich schon bloßstellst."
„Was tu ich?", ich riss die Augen auf, „ich? Ich stelle dich bloß? Wodurch? Weil wir hier alleine sind und ich dir sage, was ich denke? Hast du dich mal gefragt, wie oft ich mir irgendwelche Spitze von dir habe gefallen lassen, während andere Menschen dabei waren? Und du willst mir wirklich vorwerfen, dass ich dich bloß stelle?", ich deutete mit ausgestreckten Händen auf den Boden, „hier?"
„Ok", er pustete einen Luftstrom aus, „was war in der Zeit, als ich weg war?"
„Die hat mir gezeigt, was ich nicht will."
„Du würdest nicht so gut aussehen mit nur eine eye", Samu lehnte mit den Händen in der dunklen Jeans am Türrahmen und grinste mir zu.
Keine Ahnung, wie lange er da schon gestanden hatte.
Ich hatte mich so sehr in Rage geredet, so dass ich um mich herum nichts mehr mitbekommen hatte. Aber ich fühlte mich besser. Um einiges. Das musste endlich gesagt werden. Ich wollte nicht mehr, dass alle Leute dachten, ich würde eine harmonische Beziehung zu einem OP-Pfleger führen, der –ganz zufällig- der beste Freundin von Lenis Verlobtem war.
Wie in einem Bilderbuch.
Ich lächelte Samu zu und sah Jan dann nochmal an, der die Augen zu kleinen Schlitzen verzogen hatte.
„Wenn du den Abend noch irgendwie retten willst, dann solltest du jetzt nach Hause gehen."
„Das ist echt erbärmlich", sagte er kopfschüttelnd, drehte sich um, stieß Samu nochmal gegen den Oberarm und verließ mit schnellem Schritt die Wohnung.
Ich atmete erleichtert aus, zog die Schlafzimmertür ins Schloss und lehnte mich dagegen.
Samu kam auf mich zu, die Hände immer noch in den Taschen vergraben und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab. Ich war froh, dass er da war. Sobald Jan Leni von meiner Unterredung erzählen würde, hätte sie wieder auf der Matte gestanden, um mir eine Standpauke zu halten. Vollkommen egal, wie betrunken sie gewesen war.
Aber ich hielt Jan keine einzige Sekunde länger aus.
Für kein Geld der Welt.
„Willst du trinken something?", fragte Samu fürsorglich.
Ich nickte und stemmte mich an der Tür hoch.


Das Buffet war leergefegt, mein Wohnzimmertisch war nah an das Sofa heran geschoben und die überschaubare Anzahl an Menschen tanzte zu den Beats von ATC, Britney Spears und Jennifer Lopez. Sie nutzten den kompletten Raum für ihre Tanzmoves und wirbelten wild mit den Armen umher.
Ich atmete erleichtert aus.
Es ging mir gut.
Es fühlte sich an, als wäre eine riesige Last in der Größe des Ayers Rock von mir abgefallen.
Monatelang hatte ich mir selbst im Weg gestanden und war nicht in der Lage gewesen, diese Beziehung zu beenden.
Ich hatte mir etwas vorgemacht.
Fast ein ganzes Jahr lang.
Ich hasste es, wenn er mich bevormundete.
Ich hasste es, wenn er über meinen Kleidungsstil meckerte.
Ich hasste es, wie er Julian und Daniel verurteilt hatte.
Ich hasste es, wie er sich in unserem Urlaub mir gegenüber verhalten hatte.
Und ich konnte gut und gerne auf diese Hochzeit verzichten, wenn mein Entschluss, mich von Jan zu trennen, das bedeuten würde.
Mein Seelenfrieden stand an erster Stelle.
Monatelang hatte ich seine Launen über mich ergehen lassen, weil Leni die perfekte Hochzeit wollte.
Aber ich konnte das nicht.
Ich wollte nicht.
Nicht einen Wimpernschlag länger.
„Moi", meinte Samu, als ich immer noch im Eingang zum Wohnzimmer stand und hielt mir von hinten eine Bierflasche hin.
Lapin Kulta.
Ich griff nach der Flasche und drehte mich zu ihm um.
„Die gabs im Getränkemarkt. Ich konnte einfach nicht daran vorbeigehen, ohne zwei Flaschen mitzunehmen."
„Two?"
„Ja."
„Warum just two?"
„Was glaubst du?", ich deutete mit dem Finger zwischen uns hin und her, „wenn ich finnisches Bier trinke, dann nur mit dir."
„Aha?"
„Das sollte 'ne Überraschung werden. Ein Stück Heimat, weil du dich extra für mich auf den Weg hierher machst."
„Aha?"
„Ja", ich schaute Samu in die Augen und ließ meinen Blick dann verlegen zu Boden schweifen, „als du geschrieben hast, dass du es nicht schaffst, war ich total geknickt."
„Aha?"
„Sag das nicht immer", lachte ich und boxte ihm sanft in den Bauch, „als hättest du einen Sprung."
„Aha?", frotzelte Samu und deutete mit dem Kopf in die Richtung der Küche.
Ich folgte ihm und lehnte mich an die freie Wand direkt neben dem Eingang.
Das schummerige Licht, ausgelöst durch die vielen Teelichte, ließ sie Küche unglaublich gemütlich wirken.
„Now wir sind alone", er grinste und stemmte die Hand neben meinen Kopf.
„Ich hab mich gefragt, wofür ich diese Party überhaupt noch mache."
„Wieso?"
„Mir war eigentlich nur wichtig, dass du da bist."
Stille.
„Es war wichtig, dass ich war da", Samu nahm das Gespräch wieder auf, „tell me more, Lady."
„Das klingt kindisch, ich weiß", lachte ich unsicher, „als wäre ich 13."
„Das ist nicht childish", er schüttelte den Kopf und grinste mich an.
„Ich hab mich so sehr auf dich gefreut. Das ist alles."
„Ah", er grinste und stieß mit seiner Flasche an meine, bevor er einen großen Schluck trank.
„Ich war den ganzen Abend mit Händeschütteln und Smalltalk beschäftigt und hab dich viel zu selten gesehen", ich nippte an der Flasche, „und den Idioten hab ich dir auch nicht erspart. Tut mir leid, dass du das den ganzen Abend über dich ergehen lassen musstest."
„Kippis. Auf dich und deine birthday", erneut stieß Samu an mit dem Boden seiner Bierflasche an den Hals der meinen, setzte an und konnte das breite Grinsen auf seinen Lippen nicht überspielen.
So gut er es auch versuchte.
Skål", prostete ich ihm lächelnd entgegen.
So offen und ehrlich war ich Samu gegenüber nie gewesen.
Aber er hatte es verdient.
Er sollte nicht mehr denken, dass ich nicht mitbekommen hätte, welche Mühe er sich immer gemacht hatte.
Er war so viele Schritte auf mich zugegangen, dass ich jetzt an der Reihe war, einige auf ihn zuzugehen.
„Are you ok?", er stemmte eine Hand neben meinen Kopf.
„Ich fühl mich gut. So gut ging es mir lange nicht mehr."
„Und du bist sure?"
„Sure bin ich sure", ich trank einen weiteren Schluck Bier, „das war nötig. Ich hätte es keinen Tag länger ausgehalten. Du hattest recht."
„Wann?"
„Als du gesagt hast, dass ich endlich an mich denken soll. Das ist nicht einfach. Aber wenn man es dann tut, dann ist es nicht schwer. Und man fühlt sich gut."
„Wenn du bist besser now, dann es ist auf jeden Fall die right decision."
„Danke. Wirklich."
„You're welcome", entgegnete Samu, umschloss mit Mittelfinger und Daumen die Bierflasche, um mit dem Zeigefinger zaghaft an meiner Hand, die die Bierflasche umklammerte, entlang zu streifen.
Fast so, als wäre ich aus sehr teurem Porzellan und unglaublich zerbrechlich.
Eine Gänsehaut überzog meinen Körper.
Er verhakte unsere Finger miteinander und schmunzelte mich an.
„Maybe du brauchst mal eine new scenery."
„Was meinst du?"
„I mean eine new room. Keine people. Maybe eine relaxing bath."
Ich blickte ihn voller Unverständnis an.
Ich begriff nichts.
„What do you think, wenn wir würden gehen now?", fragte Samu deutlich.
„Wohin?"
„In meine hotel", sagte er trocken, „I'm really sorry, aber es guckt nicht, dass du hast viel fun und I'm sorry, dass ich das muss sagen, but die party ist lame. Look over there. Du hast eine monk, eine wrong Ed Sheeran und eine insect. What's that? Ich denke an a bug's life mit die dicke Raupe, die sein will eine beautiful butterfly."
Ich lachte.
„Was denkst du about my plan? Du könntest haben eine ruhige sleep und eine person, die dir bringt deine breakfast tomorrow morning an deine Bett."
„Du musst mich gar nicht lange überreden", grinste ich.
„Ok", er lehnte sich nach links, um die Flasche auf die Arbeitsplatte zu stellen, hielt sich anschließend das Handgelenk vor den Mund und tat so, als würde er in eine Agentenuhr sprechen, „K.I.T.T., can you hear me? Lady and me in five minutes. We need you!"
Wieder lachte ich.
„K.I.T.T. sagt, es ist ok."
„Gut, dann pack ich schnell was zusammen."
„Ich hole meine bag und dann wir treffen uns an die car. Deal?"
„Deal."
Samu drückte mir einen langen Kuss auf die Stirn, bevor er die Küche grinsend verließ.
Ich hingegen ging geradewegs in das Wohnzimmer, um Daniel zu sagen, dass er abschließen sollte, wenn er gehen würde. Er unterhielt sich von einem Fuß auf den anderen wippend mit Julian. Als er mich sah, winkte er mich zu sich und schloss mich sofort in seine Arme.
„Kannst du abschließen?", wollte ich wissen und presste die Lippen aufeinander.
„Wohin gehts?"
„Ich schlafe bei Samu im Hotel. Hier ist ja eh nichts mehr los", antwortete ich ehrlich.
Mein Zwilling grinste vor sich hin.
„Ich wusste es."
„Was?"
„Dass da was geht."
„Schließt du ab?", ich verdrehte gespielt genervt die Augen.
„Mit welchem Schlüssel denn bitte?"
„Wo ist der Ersatzschlüssel von Jan?", fragte ich schockiert.
„Hier", schaltete Julian sich ein und klopfte auf die Tasche seiner Mönchskutte.
„Danke dir", ich umarmte ihn zuerst, dann Daniel, „kommt gut nach Hause und schlaft schön."
„Du auch", Daniel zwinkerte mir zu, „schöne Kette."
„Danke", ich klopfte ihm auf die Schulter, ging so, wie ich war, in das Schlafzimmer, zog eine Umhängetasche aus dem Kleiderschrank und düste zwischen Bade- und Schlafzimmer hin und her, bevor ich im Flur mein Smartphone aus der Jackentasche angelte und in meinen Lackschühchen die Treppen zu Samus Wagen hinauf tippelte.

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