Bonnie hatte Clyde

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„Das klingt vielleicht doof. Aber: Hast du später Zeit?", las ich, bevor ich die Wasserflasche absetzte und auf den weißen Nachttisch stellte.
Wann war für Emma später? Es war bereits nach Mitternacht. Wann sollte ich Zeit haben? In drei Stunden?
„Es ist already late. Wann ist später bei dich?", antwortete ich und zog Stieg Larssons „Verdammnis" aus meiner Umhängetasche, die neben dem Bett stand.
Das Smartphone vibrierte.
„Jetzt?"
Eigentlich war ich müde und momentan nicht in der Stimmung, mich zu unterhalten. Mirja machte mir einen Vorwurf, dass ich ohne sie in den Urlaub gefahren war, da sie davon ausging, dass wir mehr waren als nur Sexpartner.
Den Zahn hatte ich ihr sofort gezogen.
Eine feste Beziehung stand nicht auf meiner Liste.
Schon gar nicht mit ihr.
Dass wir mehrmals in der Woche miteinander aßen und schliefen füllte mein Zuneigungskonto zu genüge.
Unmöglich war die Vorstellung, sie irgendwem als meine Partnerin vorzustellen.
Von der Presse ganz abgesehen.
„Eigentlich ich bin müde und nicht in die mood. Was es ist?", tippte ich.
„Nothing important :-)", kam zurück, „gehts dir gut?"
„Ja. I'm fine, you?"
„Fine :-) – Schlaf gut!"


Die halbe Nacht hatte ich mich auf der Couch in dem Sommerhaus von Érics Eltern von der einen zur anderen Seite gewälzt.
Jans Worte hallten in meinem Kopf unaufhörlich nach und verursachten eine unangenehme Gänsehaut. Ich hatte so ziemlich mit allem gerechnet. Aber nicht mit dieser Art von Ausbruch.
Das Einzige, was ich noch wusste, war, dass ich mit diesem Mann unter keinen Umstände einen weiteren Tag verbringen wollen würde.
Weder körperlich.
Noch mental.
Für kein Geld der Welt.
Als ich gegen 03.00 Uhr wieder mal die Balkontür öffnete um zu rauchen, hörte ich jemanden die Treppe hinabsteigen und sah, dass das Licht in der Küche angeschaltete wurde. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich ein Glas Peñascal von Éric in die Hand gedrückt bekommen.
Wir redeten lange und kamen beide zu der Erkenntnis, dass Jan kein Mann für die Ewigkeit war; auch, wenn es sich vor einigen Monaten noch so angefühlt hatte.
Allein die Debatte, um irgendwelche Kinder, die es nicht gab, war für Éric ein Grund, nicht weiterhin in einer Beziehung mit ihm zu leben. Wir schauten gemeinsam in eine Zukunft, aber nicht in „la misma dirección"; in die gleiche Richtung.
„Esto es mortal", meinte Éric.
Tödlich.
Für jede Beziehung.
Nichtwissend, wie ich am darauffolgenden Tag nach Deutschland zurückkommen sollte, schlief ich nach dem Gläschen Rotwein und dem aufschlussreichen Gespräch fast so gut wie in meinem eigenen Bett ein und wurde erst wieder wach, als Inés die Treppe mit ihrem Koffer herunter bollerte. Überschwänglich warf sie mit Entschuldigungen um sich, setzte sich zu mir auf das Sofa und verabschiedete sich von mir, da auch sie universitären Verpflichtungen nachkommen musste.
Nachdem ich ausgiebig mit Éric gefrühstückt hatte, fuhr er mich zurück ins Hotel, damit ich meine Sachen holen konnte.


Als ich endlich ausgeschlafen war, nutzte ich das Angebot des Hotels und verbrachte mehr Zeit als sonst im Fitnessstudio und in der Sauna. Eine kleine Auswahl an Obst, Müsli und Brötchen ließ ich mir anschließend auf das Zimmer liefern und genoss während des Frühstücks die Aussicht auf den Strand von Barcelona durch die großen Fenster, vor denen eine Art Sofa –eine Chaiselounge- eingelassen war. Dadurch war es hier selbst bei den schlechtesten Temperaturen wunderschön. Ich driftete gedanklich ab und sah mich mit einer attraktiven Frau Hand in Hand am Strand entlang laufen; bei Wind und Wetter.
Ich lachte kurz auf, als ich bemerkte, wie absurd dieser Gedanke war und zu was mich diese Stadt bewegen konnte. Sie machte aus mir einen gefühlsduseligen Finnen mit Hang zum Größenwahn.
Möglich, dass mir auch einfach nur etwas Sonne und Vitamin D fehlte.


Jan lag auf dem Bett, als ich das Hotelzimmer betrat. Sofort winkte ich Éric zu; Schmiere stehen musste er nicht mehr.
„Hast du es dir anders überlegt?"
„Nein", ich schüttelte den Kopf und begann gegenwärtig die wenigen Kleidungsstücke aus dem Schrank in den offenen Koffer zu stopfen, „aber wir müssen bis 12.00 Uhr ausgecheckt haben."
„Ich bleibe noch", er hob müde seinen Kopf und begann mich zu beobachten, „ich habe auf der Arbeit angerufen und gesagt, dass ich krank sei."
„Aha", gab ich beiläufig von mir, verschwand im Bad und warf meinen Kulturbeutel in das Gepäckstück.
„Ich brauche Ruhe, verstehst du."
„Jaja", abwesend nickend zog ich den Reißverschluss des Hartschalenkoffers zu, legte die Strickjacke, die auf dem Sideboard lag, über den Griff des Koffers und setzte zum Gehen an.
„Wenn du jetzt gehst, wird alles anders sein", murmelte Jan, als ich den kleinen Flur betrat, „wenn du jetzt gehst, gibt es kein Zurück mehr."
Would never be the same, wenn du gehst now.
Diesen Satz hatte ich schon mal gehört.
Instinktiv fasste ich mir an das Dekolleté.
Keine Kette.
Kein Kofferanhänger.
Der Satz hatte weh getan und mir einen Stich versetzt.
Damals.
Nicht jetzt.
„Ok", nickte ich und zog die Tür in das Schloss.
Nichtahnend, dass Jan mein Flugticket für den gleichen Nachmittag noch immer in seiner Tasche hatte.


„Ich fliege morgen früh ab Barcelona zurück. Interesse an einem nächtlichen Kaffee?"
„Du trinkst keine coffee?!"
„Für dich Kaffee – für mich Kakao?!"
„Warum du fliegst über Barça und nicht Sevilla? Die Weg ist kurzer."
„Das würde ich dir bei einem Kaffee ;-) erzählen. Also?"
„Du willst nur machen eine Selfie, posten und sagen, du hast getroffen die hot Haber."
„Verdammt. Durchschaut."
„I'm sober. You too?"
„Yes."
„Maybe doesn't work :p"
„Oh yes. Vielleicht brauchen wir einen Wein?"
„Instead of coffee?"
„Vielleicht? ;-)"
„Do you invite me?"
„Auf den Kaffee? Ja."
„Dann ich besorge die wine fur later und die conversation ;-)"
„Weil wir uns nüchtern nicht ertragen?"
„Yes, Medusa. Ist deine hair wieder so?"
„Trägst du mittlerweile einen Zopf? :p"
„Sometimes ;-) - Kommst du mit die train oder die bus?"
„Bus. Ich sitze drin. Ich fahre schon 2 Stunden."
„You need 10, right?"
„Yes. Ich bin um 01.00 Uhr da."
„I'll pick you up at the station. But not with a Caddillac or a limousine. Too expensive fur eine person, die nur ist ok, wenn ich bin drunk ;-)"
„Aston Martin?"
„Haha. No way, Emmi."
„Depp :-D"
„He sits next to you? Johnny? I LOVE HIM <3"
„:-D"
„Ich gehe an die beach joggen now. You text or call me?"
„Wenn das ok ist ;-)"
„Just once ;-)"


Ich verließ vollkommen ausgeschlafen das alte Gebäude des Bahnhofs und war überrascht, noch so viele Menschen auf den Straßen zu sehen. In Mazagón wurden bereits um 16.00 Uhr die Bordsteine hochgeklappt. Aber hier war es wie in Chile; das Leben fand abends statt. Mit der Strickjacke um den Schultern und dem Koffer in der Hand, lief ich über den Vorplatz und versuchte, in der Dunkelheit Samu zu erspähen.
Ich irrte umher wie die Bürger in dem Roman „Tauben im Gras". Von rechts lief ich wieder nach links, von links nach rechts, zurück in die Bahnhofshalle, wieder raus.
Keine Spur.
„Willst du doch keinen Kaffee?", schrieb ich ihm und vermutet, dass er eingeschlafen sei.
Plötzlich legte jemand von hinten seine Hand auf meine Schulter.
Nicht schon wieder.
„Ich habe gewinkt 100 times", meinte Samu genervt, als ich mich erschrocken zu ihm umdrehte, „ich will still meine coffee. But du musst tragen deine glasses. Sonst du bist eines Tages wach und merkst, du bist blind."
Ich schluckte und schaute an ihm herunter.
Die Haare hatten eine Haarkur bekommen und waren zur Seite gegelt.
An der Oberlippe und am Kinn hatten sich feine Bartstoppeln gebildet; was ihm ausgezeichnet stand und ihn jünger wirken ließ.
An dem Kragen des weißen Langarmshirts prankte eine große schwarze Sonnenbrille.
Die schwarze Hose warf Falten, weil er sie vermutlich regelrecht in den Koffer gestopft hatte, bevor er in das Flugzeug gestiegen war.
Und –nicht anders zu erwarten-; seine Füße steckten in weißen Converse.
„Sagst du eine alte Freund „hallo"? Oder du musst erst machen eine picture fur Facebook?", grinste er schief.
„Ich freu mich, dich zu sehen. So in Lebensgröße", umarmte ich ihn und atmete diesen vertrauten Geruch tief ein.
Seine Hände lagen auf meinem Rücken und streichelten darüber.
„Du bist kleiner geworden since two years."
„Gar nicht wahr. Du bist geschrumpft. Das passiert im Alter schonmal", provozierte ich.
„Benutzt du something against deine wrinkle on your forehead?", schmetterte er zurück und tippte mir zwischen die Augenbrauen, „wenn du willst, ich gebe dir eine cream against that."
„Charmant wie immer, Samu."
Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Wo ist die Kaffee, die du hast versprochen?", lenkte er ab.
„Kennst du eine gute Bar, die jetzt noch Kaffee ausschenkt?"
„Denkst du, ich wohne hier eine Zeit und dann ich habe later no idea?"
„Das ist doch schon so lange her", witzelte ich, „Städte ändern sich im Laufe der Jahrtausende."
„Fuck you", lachte er, nahm ungefragt meinen Koffer und zog ihn zu einem schwarzen Audi, mit der Aufschrift „W-Hotel Barcelona".


Weil ich in meinem ganzen Leben noch nie in Barcelona gewesen war und mich nur noch vage an die Bilder aus Lenis Fotoalbum von damals erinnern konnte, bekam ich von Samu eine kleine Stadtführung. Fans hätten dafür vermutlich getötet.
Sein Lieblingscafé, sein Lieblingsladen, die besten Burger der Stadt; welche es leider nicht in seinem Lieblingsrestaurant gab. Er erzählte mir, dass er zwar schon ewig nicht in der Stadt gewesen sei, sie sich aber seit Jahren wenig bis gar nicht verändert hatte.
Ganz gezielt parkte er den Firmenwagen auf dem Parkplatz des Hotels, schaltete den Motor aus, legte erwartend die Hände auf die Oberschenkel und schaute zu mir herüber.
„Du willst aussteigen vielleicht?"
„Was ist mit dem Kaffee?"
„Hier", er deutete auf das architektonische Meisterwerk, „die haben die best coffee in Spain."
„Fährt hier ein Bus?"
Samu runzelte die Stirn.
„Wofür du brauchst eine bus?"
„Ich muss nach dem Kaffee zum Hostel kommen."
„Aber erst nach die two bottles wine for die Redung after die coffee", fügte er hinzu, „du kannst rufen an die reception eine taxi dann."
„Oh, Samu", ich rieb mir über die Stirn, „ich will wirklich nicht darüber reden."
„Nach die wine you want", zwinkerte er.
„Ist später noch jemand an der Rezeption?"
„Emma", er zog die Augenbrauen zusammen, „es ist die W-Hotel, ok. You can get a camel if you want. Sie holen es for you."
„Immer?"
„Everytime, yes."
„Brauch ich das?", schmunzelte ich nachdenklich.
„Vielleicht one day", lachte er und stieg aus.


Der Kakao in dem Restaurant des W-Hotels schmeckte ausgezeichnet. Samu zog meinen Koffer durch die Lobby, während ich die zwei Becher mit den Heißgetränken, meine Umhängetasche und die Strickjacke balancierte.
Mit dem Lift fuhren wir in eine der oberen Etagen, gingen den Flur entlang, bis Samu abrupt stehen blieb und ich den Kaffee beinahe verschüttet. Er zog eine Schlüsselkarte aus seiner hinteren Hosentasche, ließ sie schnell durch den Kartenschlitz gleiten, das Licht blinkte grün und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klacken.
Sein Zimmer war fast größer als meine Wohnung. Und dafür vermutlich doppelt bis dreifach so teuer.
Die Möbel, sowie die Wände, waren in einem cremigen Ton gehalten; selbst der Schreibtisch in dem Wohn- und Arbeitsbereich des Hotelzimmers machte optisch einiges her.
Die Aussicht war atemberaubend. Von hier oben konnte man den Strand und einen Teil der Stadt Barcelona sehen.
„Mach zu, es zieht", meinte Samu und fasste mir an das Kinn.
„Das ist der Wahnsinn", staunte ich, stellte die Kaffeebecher auf den Schreibtisch, legte meine Jacke über den beigefarbenen Schreibtischsessel, der aussah wie der von Frank Underwood in der Serie „House of Cards" und ging zielstrebig auf die Chaiselounge am Fenster zu, „ich würde hier jeden Tag sitzen und auf den Strand starren."
„Das machst du nicht longer als three days. Danach du hast gesehen enough."
„Schwer vorzustellen", grinste ich und schaute Samu an.
„Take a seat", lächelte er, „ich hole die coffee und die wine."


Lange saßen wir auf der Chaiselounge, philosophierten über seine anstehende Tour, redeten, quatschten, tratschten sogar. Sprachen über meinen doofen Freund und die Tatsache, dass ich nur hier war, weil ich bei keiner anderen Airline einen Platz für den Morgen buchen konnte. Mein Chef Thomas war schon nicht begeistert, als ich ihn erzählen musste, dass ich erst am späten Freitagmittag in die Redaktion kommen würde, weil ich den Flug verpasst hatte. Das war gelogen; erschien mir in der Situation aber die einzige Notlösung zu sein. Samu und ich lachten zusammen, erzählten uns Witze und alberten rum. Die Weinflasche leerte sich immer mehr, bis er mir irgendwann den letzten Schluck eingoss, anschließend nachdenklich aus dem Fenster auf die dunkle, von Lichtern erleuchtete Stadt schaute und das Glas in seiner Hand schwenkte.
Schon lange hatte ich mich nicht mehr so losgelöst und frei gefühlt. Die wenigen Stunden waren toll und hatten mir besser getan als dieser vermeintliche Urlaub mit Jan.
In diesem Moment fühlte ich mich genau richtig.
Tom Sawyer hatte Huckleberry Finn.
Bonnie hatte Clyde.
Robinson Crusoe Freitag.
Und ich meinen besten Freund zurück.
Ich wollte nicht in das Hostel und wieder ewig warten müssen, Samu wiederzusehen.
Ich wollte diesen Abend nicht einfach so ausklingen lassen.
Unbemerkt hockte ich mich hin, krabbelte auf den Knien zu ihm herüber, nahm Samu das Weinglas ab, stellte es auf den kleinen Glastisch, auf dem auch die leere Flasche stand und hockte mich zwischen seine Beine. Verwirrt sah er mich an und grinste. Ich strich mir die roten Haaren hinter die Ohren, legte die rechte Hand an seinen Hals und meinen Kopf zur linken Seite.
„Lass uns was machen", flüsterte ich in sein Ohr und küsste mich seinen Hals entlang bis zu der Stelle unter seinem Kehlkopf. Mit den Fingern der rechten Hand malte ich kleine Kreise an seinem Hals und zwirbelte sanft die blonden Haarsträhnen ein.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt