Kapitel 1

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Zu der Klingel stürmten alle wie jeden Tag so schnell wie möglich aus ihren Klassen. Ich ging noch zu meinem Schließfach,  weil ich entschlossen habe, feige meine Mathearbeit zu verstecken. Was blieb mir anderes übrig? Mich von meinem ehrenhaften Vater in den Dreck ziehen lassen? Wohl kaum.

"Evie!", rief eine wohlbekannte Stimme und ich knallte mein Schließfach zu.
"Joshua.", murmelte ich erschrocken und setzte meine lächelnde Fassade auf, die ich über die ganzen Jahre perfektioniert habe.
Er blieb vor mir stehen und musterte mich.
Joshua ist mein Bruder. Zwillingsbruder, dennoch sind wir die wohl verschiedensten Zwillinge der Welt. Zum Beispiel hat er grüne Augen, ich Braune.
Er hat andere Charakterzüge als ich. Er ist der wohl arroganteste Junge, den ich kannte, aber trotzdem war er immer für mich da und ließ mich nie im Stich.
"Was hast du?" fragte er "Evieee?"
Und er bemerkte sofort, wenn mich was bedrückte oder ich was verheimlichte. Verdammt.
Als ich merkte, dass ich eine Weile da stand, ohne ihm zu antworten, tat ich dies und winkte ab.
"Nichts. Alles in bester Ordnung"
Langsam versuchte ich mich umzudrehen und zum Ausgang zu gehen, aber ich spürte, dass er mir nachging.
"Lüg nicht!", rief er und zog die Aufmerksamkeit aller Schüler auf uns.
Ich zuckte zusammen. Das ist Joshua. Besitzergreifend.

Ich blieb stehen, drehte mich um und funkelte ihn an.
"Kannst du nicht einmal deinen Mund halten?", sagte ich in leiser Lautstärke, kramte den Schlüssel aus meiner Tasche und versuchte den nächsten Satz so unbekümmert wie ich konnte auszusprechen.
"Ich hab 'ne 5 in Mathe geschrieben."

Ich ging nun noch schneller zu meinem weißen BMW,  der auf dem Parkplatz stand und drückte sofort auf den Schlüssel um schnell darin zu verschwinden. Es war mir egal, ob Joshua dort nun bloßgestellt auf dem Parkplatz vor meinem Auto stand. Rückwärts parkte ich aus und wich ihm damit aus. Ein Paar von den Schülern beobachteten das Geschehen, wandten sich aber dann dem was sie taten zu.

Wie fast jeden Tag im Jahr regnete es. Was erwartet man auch von Seattle? Ich aber liebe dieses Wetter. Ich liebe das Herbstwetter und den Regen. Da ich ein ganzes Stück fahren musste, machte ich das Radio an und trat auf das Gaspedal, als ich auf den Highway fuhr. Ich beschleunigte zu 180 km/h und gab mich damit zufrieden.
Wird Joshua mich verpetzen?

Nein, sowas tut er eigentlich nie. Er mag zwar arrogant sein, aber wenn es darum ging, war er echt fair.

Unser Haus ist etwas abgelegener von Seattle und daher müssen wir jeden Tag um die 20 Minuten bis in die Stadtmitte fahren, wo auch unsere Schule ist. Ich genoss jede Fahrt um mich mental auf die Schule vorzubereiten und dem Stress entgegen zu sehen, der auf mich zukommen wird.
Der Regen prasste auf meiner Windschutzscheibe ab, wurde dennoch sofort von den sich im Rhythmus des Radios bewegenden Scheibenwischern weggewischt.

Nach einer langen, ruhigen Autofahrt bog ich in die Straße ein, in der unser Haus steht und fuhr in die große Einfahrt. Kein Auto stand in der großen Garage, weder noch in der Einfahrt. Ich liebe es, allein zuhaus' zu sein! Vor allem heute. Dann muss ich nicht von meiner Mathearbeit erzählen.

Unser Haus war groß und in einem pastellgelb bis beige gestrichen. Die Einfahrt war lang und unser Vorgarten war sehr groß, was nicht viel brachte. Dort befanden sich nur Bäume und Zeug, was im Winter nicht eingehen kann oder gar bei Kälte oder Regen, denn wir leben ja in Seattle,  der Stadt mit der höchsten Rate an Regen. Trotzdem war er schön gehalten von einem Gärtner, der sich regelmäßig darum mit Herz und Seele kümmerte. Es war einer der schönsten Vorgärten in der Gegend, in der nur Villen standen.
Jede Hausfrau hier war im Kampf mit den anderen, welche den gepflegtesten Garten hatte und unserer war definitiv weit oben.

Meine Eltern waren generell immer im Drang, alles besser als alle Anderen zu haben und waren deswegen auch bei uns so streng, dass wir bloß keinen bösen Schatten auf diese Familie fallen lassen. In der Schule müssen wir perfekt sein...

perfekt.

Eine 5 in Mathe war nicht perfekt.

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