Kapitel 8

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Eves Handy vibrierte unaufhörlich. Doch sie ignorierte es einfach. Solange sich die Situation nicht änderte, wollte sie weder Hoffnungen schüren noch verängstigen. Außerdem sah sie schon minutenlang in Dans Augen und hatte sich vollkommen in diesem Anblick verloren. Jetzt bemerkte sie auch, dass sie grün waren. Ein wunderschönes grün, das sie wohl nie wieder vergessen würde. Weit entfernt vernahm sie abermals einige Schüsse und nun musste sie sich dringend ablenken, weswegen sie ihren Blick weiter über seinen Körper gleiten ließ. Als sie noch jung und unverheiratet war, hatte sie sich immer ausgemalt, sich in einen Mann zu verlieben, der Calvin Klein Boxershorts trug. Jetzt hatte sie einen vor sich liegen. Doch obwohl er halbnackt war, wirkte er mit all den Tattoos an seinen Beinen, als wäre er angezogen. „Checkst du mich etwa gerade aus, Süße?", er grinste und wackelte mit den Augenbrauen, was Eve dazu veranlasste ebenfalls kurz zu lachen, jedoch wich ihr die Fröhlichkeit sogleich wieder aus dem Gesicht. Scheinbar ließ der Schockzustand langsam nach, denn sie begann zu zittern. Um nicht vollkommen in Panik zu geraten, beschloss sie, ihren Humor trotzdem irgendwie beizubehalten. „Wie du schon weißt, habe ich schon lange keinen nackten Mann mehr gesehen", witzelte sie, doch nun sah er sie besorgt an. „Du zitterst. Ist dir kalt, Evelyn?" Sie nickte, denn tatsächlich fröstelte sie. Das war auch nicht wirklich verwunderlich, denn sie trug nur noch ihren BH am Oberkörper. In diesem Moment wünschte sie sich, sie wäre nicht so ein Weichei. Dan war viel schlimmer verletzt als sie selbst. Über ihrer Wunde hatte sich das Blut bereits verkrustet. Sie blutete also nicht mehr, während er hier mit Schmerzen am Boden lag und sich trotzdem nur um sie sorgte. Zu gerne hätte sie ihren lächerlichen Streifschuss gegen seine viel schlimmere Wunde eingetauscht. Wieder knallte es und beide fuhren merklich zusammen. Einige Sekunden lang lauschten sie, bekamen aber kein neues Geräusch zu hören. Die Stille war fast noch unerträglicher als die Schüsse. Nicht zu wissen ob er wieder näher kam, raubte die Luft aus Eves Lungenflügel. Natürlich wollte sie auch nicht, dass er weiterhin auf Menschen schoss, aber sie befürchtete, dass alle Menschen im Gebäude ohnehin bereits tot waren, denn sie hörte keine Schreie, kein Gekreische und kein Gepolter mehr, das von panischen Leuten stammte. Es war totenstill. Zu still. Angst durchfuhr sie. Zu allem Überfluss erhob sich Dan jetzt auch noch und streifte sich seine dünne Jacke ab. „Hier, zieh das an, Süße, sonst holst du dir noch eine Erkältung." Aus dem Ausschnitt seines Shirts lugten weitere Tattoos hervor, bis über seinen Hals.

„Nein, das geht nicht, dann ist dir kalt."

„Ich bin okay. Mach dir bitte keine Sorgen um mich", er lächelte und legte ihr die Jacke über Bauch und Brust. Sie seufzte, die Tränen flossen ihr wieder über die Wangen, ohne dass sie es irgendwie verhindern konnte und sie ergab sich. Gab sich all diesen schrecklichen Gefühlen hin, die ihre Brust beinahe sprengten. Gleichzeitig machte sie sich auch klar, wie glücklich sie sich im Gegensatz zu all den anderen Menschen hier schätzen konnte und sie erkannte, dass alles was bisher hier geschehen war, eine Verkettung verschiedener Umstände war. Jedoch wurde ihr, je länger sie darüber nachdachte, immer wieder bewusst, dass es allein Dans Verdienst war, dass ihre Herzen immer noch schlugen.

„Ich bin auch okay und das habe ich nur dir zu verdanken. Du hast mir das Leben gerettet, Dan. Vielen Dank. Natürlich weiß ich nicht, ob wir vielleicht trotzdem sterben werden, aber das was du für mich gemacht hast, zeugt von so großer Selbstlosigkeit, dass mir das Herz schmerzt. Du bist in eine Kugel gesprungen, um mich zu retten. So etwas würde niemand sonst für mich tun. Ich wünschte, ich könnte dir diese Verletzung jetzt abnehmen, denn eigentlich gebührt sie mir." Sie schluchzte laut.

Vorsichtig drehte er sich auf die Seite und wischte Eve die Tränen von den Wangen. „Als ich gesehen habe, wie dieser Psycho auf dich gezielt hat, wusste ich, dass ich mein Leben sofort für deines geben würde. Frag mich nicht, ob ich das für jeden machen würde, denn ich weiß es nicht, aber wenn ich noch einmal in diese Situation kommen würde, würde ich wieder so handeln. Ich bereue es nicht, dass ich diese läppische Wunde davongetragen habe, solange du lebst." Er blickte ihr tief in die Augen, es war beinahe so, als versuchte er geradewegs in ihre Seele zu sehen. „Davon ganz abgesehen, hast du mir ebenfalls mein Leben gerettet. Wenn du nicht stehen geblieben wärst, hätten wir uns auf der Rolltreppe befunden und damit keine Chance gehabt."

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