Kapitel 19

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Der Termin im Krankenhaus hatte sich als fünfminütige, vollkommen schmerzfreie Prozedur herausgestellt. Schon saßen Eve und Daniel wieder in seinem Wagen und fuhren zu der Praxis von Dr. Apple. Zum ersten Mal seit Tagen nahm Eve wieder etwas von ihrer Umwelt wahr, während sie aus dem Fenster blickte. Daniel schwieg und sie betrachtete die bunten Gebäude im Art Deco Viertel Miamis. Es ging nur in Schrittgeschwindigkeit voran. Sie wusste nicht, ob das an der Tageszeit lag, oder daran, dass hier weit und breit nur ortsunkundige Touristen zu sein schienen. Die Menschen machten einen vollkommen sorglosen Eindruck. Ein Großteil von ihnen strahlte, während sie nur knapp bekleidet von der Washington Avenue zum Strand liefen. Es wirkte ganz so, als würden alle in dieselbe Richtung laufen. Evelyn konnte es ihnen nicht verübeln. Jedes Mal wenn sie einen Blick durch die Seitenstraßen erhaschen und geradewegs zum Meer blicken konnte, erinnerte sie sich selbst daran, wie viel lieber sie einer dieser unbekümmerten Touristen gewesen wäre. Plötzlich überkam sie ein Gedanke der sie erheiterte. Wer zum Teufel, brauchte in so einer Gegend einen Psychologen? Wäre es nicht besser eine Praxis irgendwo abseits von diesem ganzen Luxus zu betreiben? Was konnte man sich denn mehr wünschen, als all das, was man hier an der südlichen Spitze des Festlandes von Florida hatte. Sonne, großartige Locations zum Essen, Trinken oder auch einfach nur relaxen. Einen kilometerlangen feinen Sandstrand und einige ziemlich relaxte Einheimische. Warum würden die also einen Psychologen genau hier benötigen? Welcher Einheimische sollte hier denn Probleme haben? Auch als normaler Pauschaltourist suchte man sich wahrscheinlich nicht unbedingt Miami aus, um einen Seelenklempner zu besuchen. Eve schob den Gedanken beiseite, als Dan den Wagen parkte. Zum Glück gab es in den Vereinigten Staaten beinahe ausschließlich Autos mit Automatikgetriebe, denn Eve bezweifelte, dass er ansonsten in der Lage gewesen wäre, mit seinem Bein zu fahren.

Die Praxis befand sich in einem mehrstöckigen Gebäude. Obwohl sie eine tiefe Abneigung gegen Fahrstühle verspürte, seit sie bei dem Attentat in einem gefangen gewesen waren, wollte sie Daniel nicht über die Treppen laufen lassen. Wenngleich er es meistens bestritt, war sie sich ziemlich sicher, dass seine Verletzung immer noch schmerzte. Immerhin schmerzte ihre Wunde auch noch ein wenig und das obwohl die, im Gegensatz zu seiner Verletzung, wirklich nicht der Rede wert war. Wie immer durchfuhr sie eine schreckliche Erleichterung, als sie im richtigen Stockwerk angekommen waren und sie den Aufzug verlassen konnten. Schnell traten sie vor das Pult der Sprechstundenhilfe. Ohne dass sie auch nur ein Wort zu ihr gesagt hatten, sah die auf und strahlte: „Ahh, Mr. Keene und Mrs. Kramer, setzen Sie sich doch bitte einen Augenblick, Dr. Apple wird sie gleich aufrufen."

Daniel ließ sich auf einen der Stühle im Warteraum fallen und zog Eve an sich heran. Scheinbar hatte er sich zu Herzen genommen, was sie zuvor gesagt hatte, denn er drückte sie einfach auf seinen Schoß, worauf sie erleichtert aufatmete. Seine Anwesenheit nahm ihr ein wenig ihre Angst und seine Berührungen verhalfen ihr, wie immer, zu einem ruhigeren Puls, gleichzeitig musste sie aber auch dagegen ankämpfen ihren Kopf auf seiner Schulter abzulegen und tief seinen Geruch einzuatmen.

Eine Frau trat auf sie zu und sah sie mit großen Augen an: „Mr. Keene, Mrs. Kramer, ich bin Dr. Apple. Wer von Ihnen beiden möchte gerne zuerst mit mir sprechen?" Evelyn schüttelte entsetzt den Kopf. Keinesfalls wollte sie alleine in den Therapieraum. Sofort spürte Dan ihre Panik und sagte deshalb: „Es wird nicht nötig sein, uns voneinander zu trennen. Evelyn und ich haben keine Geheimnisse voreinander." Erst jetzt wurde Eve bewusst, dass das Bild das sie sich in ihrem Kopf zusammengebastelt hatte, nicht mit der Realität übereinstimmte. Dr. Apple war eine Frau. Das war eine Überraschung, hatte Evelyn doch mit einem kleinen, dicklichen Kerl mit Brille gerechnet.

„Das mag möglich sein, jedoch befürchte ich, dass sie eine gemeinsame Sitzung in einige unangenehme Situationen bringen könnte", antwortete die Psychologin und lächelte dabei freundlich.

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