Kapitel 45

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„Daniel, ich bin mir nicht sicher, ob ich es da hinauf schaffe", zweifelte Eve an sich selbst, als sie vor der Leiter stand, die an dem Garagendach angelehnt war. „Ach Liebling, ich halte die Leiter und stehe genau davor. Sollte irgendetwas passieren, werde ich dich auf jeden Fall auffangen", versprach er. Auf zittrigen Beinen erklomm sie die wenigen Sprossen bis auf das niedrige Garagendach, das zum Glück flach war. Dann trat sie einige Schritte vom Abgrund weg. Auch wenn es nicht unbedingt hoch war, konnte sie aufgrund ihrer Höhenangst nicht hinuntersehen. Genau wie Daniel es geplant hatte. Verschmitzt grinsend blickte er aufwärts. „Liebling, ich muss noch schnell das Werkzeug holen. Ich komme gleich wieder", versprach er. „Du willst mich doch jetzt nicht wirklich hier oben alleine lassen!", schrie sie schockiert. „Es dauert doch nur eine Minute, Eve. Ich komme gleich wieder, keine Angst. Setz dich doch solange einfach auf das Dach." Langsam nickte sie, obwohl er sie aus diesem Winkel gar nicht mehr sehen konnte. „Okay", rief sie, „aber beeil dich. Es ist wirklich heiß hier oben."

Schnellen Schrittes ging Dan in Richtung Haus. Er hatte den Werkzeugkoffer bereits vor die Tür gestellt. Das gehörte alles zu seinem Plan, aber zuerst musste er ihr Handy finden, das er auch sogleich am Küchentisch entdeckte. Zum Glück schien Eve ihm nichts verheimlichen zu wollen, denn es war nicht einmal durch einen Code gesichert. Schnell griff er danach und schrieb die Nummern von Emma, ihren Eltern, sowie ihrem Bruder ab, dann verließ er das Haus mit dem Werkzeug bewaffnet. Kaum stieg er über die letzte Sprosse der Leiter auf das Dach, stand Eve vorsichtig auf. „Ich habe die Ursache gefunden, weswegen es reinregnet. Diese Schindel hat sich wohl ausgehängt", sagte sie und deutete dabei auf einen lockeren Dachziegel. Dan war erleichtert. Es würde wohl einfach sein, das zu reparieren. „Gut, Liebling, das schaffe ich wohl auch alleine, setz dich doch einfach wieder", bat er sie, während er bereits angefangen hatte, die Dachschindel wieder zu befestigten. „Fertig", verkündete er und staunte über sein eigenes handwerkliches Geschick. „Zum Glück, mir ist etwas schwindlig." Eve schwankte sichtlich hin und her. Sie wusste nicht, ob sie das der Höhe zuzuschreiben hatte oder ob es an etwas Anderem lag, aber sie fühlte sich wirklich seltsam. Dan sah zu ihr hinüber. Ihr Gesicht war leichenblass und sie zitterte am ganzen Körper. „Liebling, geht es dir gut?", fragte er besorgt und legte den Arm um ihren Rücken, weil er Angst hatte, dass sie jeden Moment umkippen könnte. „Ich ... ich ... weiß nicht. Mir ist irgendwie schwarz vor Augen. Vorsichtig hievte er sie hoch, legte sie über seine Schulter und trug sie so die Leiter hinunter. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, stellte er sie an einem schattigen Plätzchen ab. „War es nur die Höhe oder brauchst du einen Arzt, mein Liebling?" Nur verschwommen nahm sie die Worte wahr. Ihre Sicht war etwas unscharf. Die Hände stemmte sie in die Hüften, weil sie unablässig zitterten. Sie konnte sich das alles nicht erklären. „Dan, mir ist irgendwie schlecht", stotterte sie. Kaum hatte sie es ausgesprochen, übergab sie sich direkt vor seinen Füßen, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen. „Ich wähle den Notruf, die sollen einen Rettungswagen schicken." Besorgt sah er sie an und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das ist nicht notwendig, Dan. Ganz bestimmt war das nur mein Kreislauf, weil es dort oben so verdammt heiß war." Am liebsten hätte er sich selbst geschlagen. Hatte sie jetzt etwa einen Sonnenstich, nur weil er ihr ein paar Daten klauen wollte? Er zog sie wenige Schritte vom Platz weg, an dem sie sich soeben übergeben hatte und hievte sie dann auf seine Arme. So trug er sie ins Haus und legte sie sorgsam auf der Couch ab. „Dan, ich muss mir die Zähne putzen. Das ist so verdammt peinlich", stöhnte sie und legte sich dabei die Handfläche auf die Stirn. Tadelnd sah er sie an: „Das ist weder peinlich noch musst du dir jetzt die Zähne putzen, mein Liebling. Es ist alles gut", er streichelte ihr über die Wange, bevor er weitersprach, „ich hole dir jetzt ein Glas Wasser und eine Cola, falls du dich unterzuckert fühlst. Du bleibst einfach liegen, hörst du?" Energisch schüttelte sie den Kopf und wollte sich wieder aufsetzen, aber Daniel drückte bestimmt gegen ihre Schulter. Als er merkte, dass sie sich ganz sicher nicht an seine Vorgaben halten würde, wenn er erstmal aufgestanden war, um sich in die Küche zu begeben, ließ er sich neben ihr nieder. Reuevoll blickte er ihr in die Augen. „Eve, es tut mir leid, dass ich dich auf das Dach gejagt habe. Das ist alles nur meine Schuld. Ich werde dich heute den ganzen Tag verwöhnen. Du bleibst einfach den restlichen Tag liegen und ich bringe dir was auch immer du willst." Ungläubig sah sie ihm in die Augen: „Auch wenn sich das wahnsinnig reizvoll anhört, kann ich das leider nicht zulassen. Du hast heute Training, Daniel und mir geht es schon wieder viel besser. Das war bestimmt nur der Kreislauf und ich bin schon ein großes Mädchen, ich kann auf mich selbst aufpassen." Entsetzt starrte er sie an: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich in deinem Zustand ganz alleine zuhause lasse." „Das wirst du müssen, ansonsten komme ich nämlich mit, denn ich lasse dich bestimmt nicht dein Training schwänzen. Es normalisiert sich langsam wieder alles und ich mag dieses Gefühl. Das wirst du meinetwegen ganz bestimmt nicht aufs Spiel setzen. Mir war nur eine Sekunde schwarz vor Augen. Ich hatte so etwas schon öfter, ich weiß, dass das nicht länger andauert." „Nein, Eve", fuhr er sie scharf an, aber sie legte zärtlich die Finger unter sein Kinn und unterbrach ihn: „Wir machen einen Deal. Du hast erst in drei Stunden Training. So lange bleibe ich liegen und mache alles was Dr. Keene von mir verlangt, aber wenn sich mein Zustand bis dahin nicht wieder verschlechtert, gehst du zur Arbeit!" Er verdrehte die Augen und stimmte dann gequält zu. „Und Daniel", sagte sie. Er blickte sie fragend an. „Ich werde mir jetzt die Zähne putzen." Resignierend warf er die Arme in die Luft: „Aber ich komme mit und wenn du dich irgendwie unwohl fühlst, sagst du sofort Bescheid." Sie grinste belustigt: „Du weißt genauso gut wie ich, dass du es ohnehin spüren würdest, wenn es mir schlecht ginge. Es gibt also keinen Grund dich zu sorgen", sie blickte ihm tief in die Augen und benutzte dann zum ersten Mal seit sie ihn kannte einen Kosenamen für ihn, „mein Schatz." Augenblicklich erhellte sich seine Miene und er drückte ihr ein Küsschen auf die Lippen. „Iiihhhh", kreischte sie, „du hast mich doch nicht etwa gerade geküsst, obwohl ich vor wenigen Minuten gekotzt habe?" Er grinste frech und sie wurde augenblicklich rot. „Das war doch nur ein harmloses Küsschen. Wie wenn ich dich auf die Wange geküsst hätte. Kein Grund sich zu schämen."

Wie vermutet, hatte sich Eves Gesundheitszustand nicht mehr verschlechtert, was auch daran gelegen haben könnte, dass Dan wirklich ein hervorragender Krankenpfleger war. Er hatte die ganze Zeit bei ihr auf der Couch verbracht, ihr den Rücken gekrault und war nur aufgestanden, damit er ihr Tee und Snacks besorgen konnte.

Eve fiel es schwer ein Schmunzeln zu unterdrücken. Dieser große, tätowierte Mann, der eigentlich einen ziemlich gefährlichen Eindruck machte, war wirklich äußerst fürsorglich und liebevoll. Gefährlich kam er ihr nun wirklich nicht mehr vor. Sie schmunzelte, verzog aber das Gesicht sofort, als sie einen Blick auf die Wanduhr erhaschte. Jetzt reichte es wirklich. Er war schon spät dran und sollte nun endlich zum Training, bevor er es noch verpassen würde. Um ihm das klarzumachen, drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen und sagte: „Bye, mein Schatz. Viel Spaß bei der Arbeit." Verdutzt blickte er sie an: „Ich könnte auch noch ein wenig bleiben. Wirklich, Liebling, es ist bestimmt kein Problem, wenn ich heute einfach nicht zum Training gehe. Mein Team weiß ohnehin schon Bescheid, dass ich zukünftig viel kürzertreten möchte und meinen Vertrag wahrscheinlich gar nicht verlängere."

„Geh jetzt", forderte sie ihn auf und funkelte ihn dabei böse an. Jedoch musste sie schon nach wenigen Augenblicken von ihm wegsehen um nicht in Gelächter auszubrechen. Ein wenig unsicher stand er auf, bückte sich aber sogleich nochmal um sie zu küssen. „Du versprichst, dass du mich anrufst, sollte irgendetwas passieren!" Sie schmunzelte: „Das ist doch Blödsinn. Du solltest dein Handy wirklich nicht mit in die Sporthalle nehmen."

„Es ist mir vollkommen egal, ob du das blödsinnig findest. Ich werde mein Telefon auf jeden Fall bei mir haben." In seiner Stimme lag so viel Nachdruck, dass sie kurz erschauderte. Ihr war klar, dass sie ohnehin keine Chance hatte. Wenn Dan sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer ihn vom Gegenteil zu überzeugen, weswegen sie sich resigniert zurückfallen ließ. „Und", fuhr er fort und zog das Wort dabei so in die Länge, dass sie jetzt bereits wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. „Du wirst genau hier auf der Couch bleiben. Ich will dich exakt so vorfinden, wenn ich am Abend zurückkomme." Sie verdrehte die Augen und schnaubte genervt. „Es ist alles gut, Dan. Wir müssen wirklich nicht übertreiben." Damit stand sie auf, schnappte sich seine Sporttasche, die im Flur stand und schob ihn zur Tür.

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