Kapitel 16

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Mit einem flauen Gefühl im Magen, ging Eve durch die Schiebetür, in den Bereich in dem am Vortag das Attentat stattgefunden hatte, welches sie nun wohl ihr ganzes Leben verfolgen würde. Allzu weit kam sie jedoch nicht an den Ort des Geschehens heran, weil sich der Terrorist den Weg bis zur Kofferausgabe freigekämpft hatte, zu der man nur kam, wenn man ein ankommender Fluggast war. Rückwärts durch den Zoll konnte man eigentlich nicht laufen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie viele Menschen er wohl getötet haben musste, um es überhaupt erst bis dorthin geschafft zu haben. Außerdem konnten sie auch von unglaublichem Glück sprechen, dass die Schlange bei der Einreise ungewöhnlich kurz war, denn sie hatte die Immigrationsschalter auch schon mit hunderten Menschen vor ihr erlebt und wenn es an diesem Tag auch so gewesen wäre, hätte sich die Opferanzahl wahrscheinlich sogar noch verdoppelt. Alles in diesem Gebäude wirkte seltsam normal. So als hätte die Tragödie am Vortag nie stattgefunden. Abgesehen von den wenigen Journalisten die sich hier herumtrieben. Es herrschte reges Treiben. Fluggäste schlenderten vor sich hin, während andere hastig an ihr vorbeieilten. Einige Fernsehteams befanden sich ebenfalls vor Ort, Reporter sprachen mit traurigen Mienen in die Kameras. Dahinter immer mal wieder Menschen, die so aussahen als wäre alles einfach spurlos an ihnen vorbeigegangen.

Natürlich hatte Eve nicht erwartet, dass dieser Ort sich in eine Trauerhalle verwandeln würde, aber sie hatte zumindest damit gerechnet, dass die Passagiere, die sich so glücklich schätzen konnten, erst einen Tag nach dem Tag X gelandet zu sein, schrecklich fühlten. Einige schienen davon aber ziemlich unbeeindruckt. Bereits am ersten Tag nach dem Attentat war die Hektik an diesen Ort zurückgekehrt. Sie blickte sich um, suchte hinter sich nach Daniel, aber sie konnte ihn nicht finden. Jedoch verließ sie sich darauf, dass er gleich wieder an ihrer Seite sein würde. Das war er doch immer.

Wahrscheinlich war er schon vorgegangen. Vor der Rolltreppe, die von dem oberen Stockwerk nach unten führte, standen einige Kerzen und Blumen. Auch Eve hatte eine einzelne weiße Rose gekauft. Dazu hatte sie einen Satz niedergeschrieben, den sie dort ebenfalls niederlegen wollte. „Wir werden dich niemals vergessen, Amelia."

Langsam trat sie näher an die Gedenkstätte heran und kniete sich auf den Boden. Es war ihr egal, dass ihre blanken Knie auf den kalten Fliesenboden gedrückt lagen. Ihr Körper zitterte. Sie wartete darauf, dass Dan kam und ihr die Arme um den Torso legte, denn er würde sie jetzt ganz bestimmt nicht alleine lassen. Außerdem brauchte sie ihn in diesen Moment fast noch dringender als die Luft zum Atmen. Ohne ihn würde sie es nicht übers Herz bringen die Andenken hier abzulegen. Als er jedoch nach einigen Augenblicken immer noch nicht hier war, drückte sie den Kopf fest in ihre Handflächen und schluchzte laut los. Die Tränen flossen heiß über ihre Wangen, fingen sich zwischen ihren Fingern. Ihr Haar klebte nass an ihrer Haut. Schweißperlen rollten über ihre Stirn. Die Rose lag, genauso wie der Zettel, in ihrem Schoß, doch sie konnte sich einfach nicht bewegen. Ihr Körper zitterte so sehr, dass es ihr Mühe kostete auf den Unterschenkeln sitzen zu bleiben, ohne einfach seitlich wegzurutschen. Wo blieb Dan nur? Vorsichtig hob sie den Kopf aus ihren Händen und blickte sich um. Die Leute um sie waren verschwunden und auch Daniel war nirgends zu sehen. Sie wollte laut schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Ein ohrenbetäubender Knall ließ sie aufspringen. Sofort wiederholte sich das Geräusch und zwar mehr als nur einmal. Bäm, bäm, bäm. Sie fühlte sich einen Tag zurückversetzt. Was war hier nur schon wieder los? Empört taumelte sie ein paar Schritte hin und her, blickte sich um und fand zu ihrem Entsetzen einen Spiegel. Jedoch bekam sie nicht ihr Spiegelbild zu sehen. Nein, sie sah Amelia und sie hatte ein großes Loch zwischen den Augen. Starr vor Angst fuhr sie mit den Fingern zu ihrer Stirn, versuchte zu verstehen was hier los war. Hinter ihr im Spiegel tauchte der Mann mit der Waffe auf. Er grinste ihr ins Gesicht, während er den Abzug zog, und gerade als sie dachte sie musste sterben und laut zu schreien begann, sprang Dan auf sie zu und drückte sie unter den blauen Umhang. Sie wirbelte wild herum, drängte Dan weg und zog ihn im nächsten Moment näher an sich heran. Ihre Schreie wurden immer lauter, während sie ihren Kopf fest gegen Daniels Brust gedrückt hielt. Er setzte an etwas zu sagen, doch sie konnte ihn nicht verstehen und plötzlich drang Licht zu ihr durch. War sie jetzt etwa tot? War das das berühmt berüchtigte Licht am Ende des Tunnels? Erschrocken riss sie die Augen auf und bekam sogleich einen besorgt aussehenden Dan zu Gesicht. Er hielt sie an der Taille fest, drückte sie gegen etwas weiches, redete beruhigend auf sie ein. Aber alles was sie spürte war das entsetzliche Zittern ihres Körpers und ihr Herz das ihr bis zum Hals klopfte. Suchend blickte sie sich um. Wo war Amelia hingekommen?

„Wo ist sie?", fragte sie Dan. Anstatt ihr zu antworten drückte er sanft seine Lippen auf ihre. Der Kuss dauerte nur eine einzige Sekunde an, bevor Dan wieder von ihr abließ, dann sah er ihr tief in die Augen und sagte: „Evelyn, du musst dich beruhigen, das war nur ein schlechter Traum. Es ist vorbei. Wir leben. Der Attentäter ist tot. Er kann dir nichts mehr anhaben." Sein Geschmack hatte sie zurück in die Realität geholt. Tatsächlich lag sie gemeinsam mit Daniel auf der Couch in seinem Wohnzimmer, das abgedunkelt war, doch flackernde Bilder, die vom Fernseher stammten erhellten den Raum ein wenig. Er hatte seinen nackten Oberkörper fest gegen ihren gedrückt. Sie trugen beide nur Unterwäsche, denn nach dem gemeinsamen Bad schien es ihnen kindisch zu sein, in seinen Klamotten zu schlafen, immerhin befanden sie sich in Miami. Damit war sein Trikot ebenfalls nicht zum Einsatz gekommen.

„Ist alles wieder okay?", fragte Dan vorsichtig. Eve nickte, immer noch außer Atem. „Es tut mir leid, Liebling. Das war wohl meine Schuld. Ich war nur kurz auf der Toilette. Sieht ganz so aus, als hätte ich dich nicht allein lassen dürfen."

Energisch schüttelte sie den Kopf. Für ihren Alptraum konnte er ganz bestimmt nichts und sie würde außerdem ohnehin damit klarkommen müssen. Immerhin konnten sie nicht Vierundzwanzig Stunden am Tag gemeinsam verbringen. Auch ohne ihn, durfte sie also keine Panikattacken bekommen. Jedoch schien er genau vom Gegenteil überzeugt zu sein, denn er sagte: „Ich werde dich nie wieder alleine lassen, versprochen." Obwohl sich seine Aussage äußerst liebevoll angehört hatte, schnaubte sie laut. „Dan, das ist doch Bullshit. Natürlich wirst du mich allein lassen müssen. Was willst du denn machen wenn du auf die Toilette musst, dir in die Hose pinkeln?"

Eigentlich hatte sie erwartet ein wenig Erleichterung in seinem Blick zu erkennen, jetzt wo sie gesagt hatte, dass er nicht ununterbrochen für sie verantwortlich war, doch er sah sie vollkommen entschlossen an. „Wenn ich auf die Toilette muss, wirst du eben mitkommen!"

„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst." Entsetzt starrte sie den halbnackten Mann vor ihr an. „Dan, es wird sich nicht vermeiden lassen, dass wir auch mal getrennte Wege gehen müssen und damit werde ich klarkommen. Vielleicht dauert es noch ein wenig, aber ich werde mich von diesem Arschloch ganz bestimmt nicht kleinkriegen lassen." Er nickte. Plötzlich schien er auch zu verstehen, dass sich sein Plan nicht ganz so leicht umsetzen lassen würde.

„Evelyn?"

„Hm?"

„Es macht mir Angst, wenn ich dich nicht aufwecken kann. Ich habe es sicher fünf Minuten lang versucht, aber du hast erst auf den Kuss reagiert. Wir haben uns jetzt schon einige Male geküsst, dennoch will ich dir auch nicht zu nahe treten, denn immerhin kannst du dich ja nicht wehren, wenn du schläfst. Ist es denn okay für dich, wenn ich dich küsse?" Für gewöhnlich schaffte es niemand Dan zum Erröten zu bringen, aber die Frage, die er gerade gestellt hatte, war mehr als nur seltsam. Doch er musste sie einfach stellen, denn er befürchtete, dass man in der Zeit, in der sie in einem dieser Träume gefangen war, alles mit ihr anstellen könnte und wollte die Situation keinesfalls ausnutzen. Er musste auf jeden Fall verhindern, dass sie sich deshalb unwohl fühlte und dann eventuell gar nicht mehr neben ihm einschlafen wollte.

Eve konnte Dan ansehen wie sehr ihn seine Gedanken quälten und sie fragte sich warum er so viel darüber nachdachte, immerhin hatte sie es ihm bisher immer durchgehen lassen, wenn er ihr nahe kam. Es sollte sie wohl stören, dass er sie küsste, jedoch tat es das nicht. Diese Küsse fühlten sich immer gut an. Und jeder einzelne von ihnen war ihr in genau der richtigen Situation auf die Lippen gedrückt worden. Dan verfügte über ein ausgeprägtes Feingefühl darüber, wann er ihr nahe kommen durfte, und wann er Abstand halten musste. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart zu nichts gedrängt. Erwischte sich eher manchmal dabei, wie sie sich selbst noch viel mehr wünschte. Natürlich wusste sie, dass das alles äußerst verwirrend auf ihn wirken musste. Immerhin konnte er ja nicht ahnen, zu welchem Zeitpunkt sie ihre Meinung änderte und wieder von dem Ich-will-dir-nahe-sein- in den Wir-müssen-Abstand-halten-Modus wechselte. Jedoch schien er es die meiste Zeit intuitiv zu spüren und weil sie wusste, dass er ihre Erlaubnis nicht ausnutzen würde, sagte sie: „Diese Küsse sind perfekt."

Kurz fragte sie sich, wie oft sie das Wort perfekt schon im Zusammenhang mit Daniel in den Mund genommen hatte. Sie war sicher, dass sie es in den letzten Stunden weit mehr benutzt hatte, als in ihrem gesamten Leben zuvor.

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Happy Birthday Mary_Lou_1  :)

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