Kapitel 56

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Liebe Leser!
Irgendwie hatte ich einen Fehler in der Planung! 🙈 Es tut mir leid. Hab irgendwann wohl ein Kapitel übersehen. Deshalb gibt es bis zum 23. noch täglich jeweils eins und am 24. zwei Kapitel!
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Leise klopfte es an Eves Zimmertür. Eigentlich hatte sie keine Lust darauf mit Johnny zu sprechen, aber nachdem er so freundlich gewesen war, ihr ganze zwei Wochen lang ein Zimmer zu überlassen, ohne auch nur einmal zu versuchen sie irgendwie unter Druck zu setzen oder mit ihr über Daniel reden zu wollen, wusste sie, dass sie es ihm nun schuldig war, zu öffnen und sich von ihm zu verabschieden. Vorsichtig erhob sie sich vom Bett, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und schritt zur Tür. Zweimal atmete sie tief durch, ehe sie sie schließlich aufriss.

Bevor sie auch nur ansatzweise verstehen konnte, was hier vor sich ging, fragte Daniel: „Kann ich reinkommen?" Sie ließ die Klinke los und wankte zur Seite um ihm Platz zu machen. „Es ... es tut mir leid", stammelte er. Verschiedenste Gefühle breiteten sich in ihrer Magengegend aus, aber sie konnte kein einziges von ihnen bestimmen: „Kannst du ... kannst du ...", stotterte sie, während sich ihre Tränen wieder verselbstständigten. Es tat ihm leid, hieß das, er wusste nun wieder alles? Ein Hochgefühl breitete sich in ihr aus. War Daniel zurück? Würde vielleicht endlich wieder alles gut werden? Er schüttelte seinen Kopf und die Seifenblase, in der sich all ihre Hoffnungen befanden, zerplatzte schlagartig. Erst dann wurde ihr bewusst, was ihm wirklich leidtat. Sie. Wie sie vor ihm stand. Wie ein armseliger Haufen Elend. Sie musste schrecklich aussehen und er fühlte sich dafür verantwortlich, obwohl er doch gar nicht wirklich etwas dafürkonnte. „Nein, Evelyn, sorry. Ich kann mich immer noch nicht erinnern. Aber es tut mir wahnsinnig leid, dass ich mich erst jetzt bei dir melde. Du musst mir glauben, dass ich niemals beabsichtigt habe dich zu verletzen, aber ich musste einfach zuerst selbst lernen mit dieser Situation umzugehen. Immerhin fehlen mir ganze elf Wochen Erinnerungen." Sie nickte zaghaft. „Warum bist du dann jetzt hier, Dan?", fragte sie und konnte die Enttäuschung nicht verbergen, die in ihrer Stimme mitschwang, weswegen er sie sofort mitleidig betrachtete. „Vielleicht ist es etwas viel verlangt, aber ich wollte dich darum bitten, mir zu helfen, mich zu erinnern." Wieder nickte sie und abermals keimte Hoffnung in ihr auf, die sie sofort wieder zu verdrängen versuchte. Dieses Unterfangen würde anstrengend werden und sie hatte nicht die geringste Ahnung, ob es auch wirklich etwas bringen würde. Doch auch wenn es ihr die restliche Kraft rauben würde, die sie noch besaß, sie würde alles tun um ihm zu helfen. „Wie hast du dir das vorgestellt?", ihre Stimme löste sich einfach unter den Tränen auf, die ihr heiß über die Wangen rollten. Daniel streckte die Finger nach ihr aus und wischte vorsichtig über ihr Gesicht. Sofort schlug ihr Herz doppelt so schnell. Sie hatte sich so sehr nach seinen Berührungen gesehnt. Gleichzeitig zuckte sie jedoch leicht zurück. Immerhin war das hier doch gar nicht ihr Daniel, der ihr über das Gesicht streichelte. Nein, das war der Daniel, der er war, bevor dieser Anschlag alles verändert hatte und sie wusste nicht, ob er damals vielleicht ein ganz anderer Mensch war. „Ich dachte, du könntest mir einfach alles von Anfang an erzählen. Vielleicht kann ich mich ja doch an irgendetwas erinnern."

„Setz dich", bat sie ihn und versuchte dabei sich wieder ein wenig zu beruhigen, weil es schwer war sie zu verstehen, während sie so aufgelöst war. „Das könnte ein langes Gespräch werden", warnte sie ihn vor. Vorsichtig ließ er sich auf das Bett nieder. Seine Stirn legte sich in Falten, offensichtlich überlegte er, bevor er sie wissen ließ: „Es ist mir ganz egal wie lange es dauert, ich will mich erinnern." Vielleicht war er doch der Daniel, den sie kannte. Hoffnung durchfuhr sie abermals, jedoch wurde sie sofort wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt, als ihr klar wurde, dass sie nicht allzu lange Zeit hatte ihm alles zu erklären: „Dan, ich werde dir, wie immer, so gut es geht zur Seite stehen, aber ich fliege morgen zurück nach Spanien. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich kann nicht mehr länger visafrei in den USA bleiben und ich habe nur noch zwei Wochen frei, bevor ich wieder arbeiten muss. Es war schon schwer genug meinen Arbeitgeber davon zu überzeugen, mich nach den Ferien unentgeltlich noch ein wenig länger freizustellen." Entsetzt starrte er sie an, rang sich dann aber ein Lächeln ab, welches seine Augen jedoch nicht erreichte. Und plötzlich spürte Eve die Angst, die von ihm ausging. So lange hatte sie keine seiner Emotionen mehr gefühlt, doch jetzt war ihr überdeutlich bewusst, dass er sich schrecklich davor fürchtete, nie zu erfahren, was in den elf Wochen nach dem Anschlag geschehen war. Trotzdem versuchte er optimistisch zu bleiben. „Gut, das schaffen wir. Das ist doch schon mal ein Anfang. Du arbeitest" stellte er fest, „Was machst du denn?" „Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten." „Okay, eine spanische Pädagogin also. Erzähl mir bitte, wie wir uns kennengelernt haben." Sie seufzte tief, musste dann aber doch kurz grinsen: „Wir haben uns gehasst." „Was?", fragte er entsetzt. Jetzt musste sie wirklich lächeln. Das erste richtige Lächeln, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte. Der Gedanke an ihr erstes Aufeinandertreffen erwärmte ihr Herz, auch wenn es vielleicht nicht unbedingt das romantischste war. „Du hast dich am Flughafen vor mich in die Reihe gedrängt, woraufhin ich dir meinen Koffer gegen die Taille geschlagen habe. Ich hatte ja keine Ahnung wer du bist, aber du schienst ziemlich sicher zu sein, dass dein Promistatus dir jedes Recht geben würde, dich als Arschloch aufzuspielen." Er zog die Augenbraue nach oben. „Du kommst aus Spanien und wusstest trotzdem nicht wer ich bin?", fragte er verdattert. Sie verdrehte die Augen: „Du gefällst mir besser, wenn du nicht so überzeugt von dir selbst bist." Er nickte nun amüsiert: „Deshalb mag ich dich also. Okay und weiter?" „Du hast ein Vermögen ausgegeben um mich von meinem Platz in der First-Class zu vertreiben und wir haben fast den ganzen Flug lang gestritten, bis du dich schlussendlich zu mir auf den Sitz gelegt hast." „Was?", schrie er abermals entsetzt, „Warum habe ich mich zu dir gelegt, obwohl du mich gehasst hast? Und warum hast du das zugelassen?" Sie lachte ausgelassen, obwohl ihr immer noch Tränen über die Wangen rollten. Und so seltsam es sein mochte, es war genau das, was Daniel immer schaffte. Wenn er in ihrer Nähe war, fühlte sie sich immer pudelwohl, egal wie beschissen die Situation auch sein mochte. „Das wüsste ich auch gern", sagte sie deshalb scherzhaft, bevor sie wieder ernst wurde: „Ich habe es anfangs gar nicht bemerkt." Dan sah sie ungläubig an und sie versuchte sich so gut es ging an die Geschehnisse im Flugzeug zu erinnern. „Nach einer Weile des Streitens hattest du mir meinen ursprünglichen Sitzplatz wieder überlassen und ich bin eingeschlafen, nachdem ich mir zwei Schlaftabletten gegönnt habe. Als ich wieder aufgewacht bin, lagst du plötzlich neben mir. Jedoch hast du mir einigermaßen glaubhaft versichert, dass du nur auf meinem Sitz platzgenommen hattest, weil dein Inseat Entertainment ausgefallen war. Danach haben wir uns ganz gut verstanden und du wolltest mir schlussendlich sogar, ganz gentlemanlike, mein Gepäck noch zum Taxi tragen." Er sah sie ungläubig an. Sollte er das etwa glauben? Seit wann war er ein Gentleman? Lange konnte er sich darüber aber ohnehin keine Gedanken machen, weil Eves Stimme plötzlich ziemlich betrübt klang und er einen schmerzhaften Stich in seinem Herz fühlte. „Jedoch ist es soweit nie gekommen. Unser Gepäck haben wir immer noch nicht zurück." Er sah sie fragend an. „Kaum sind wir durch die Immigration gelaufen, hat ein Wahnsinniger wie wild um sich geschossen. Bei dem Attentat wurden 136 Menschen getötet. Es war wirklich schrecklich Daniel. Gleichzeitig können wir aber auch wahnsinnig froh sein, dass wir es überlebt haben." Abermals rollten ihr Tränen über die Wangen. Etwas hilflos starrte er sie an und zog dann die Augenbraue nach oben. „Ja, das wurde mir bereits gesagt und es ... es tut mir leid", stotterte er. „Mir auch", antwortete sie für einen Moment in Gedanken versunken. Er griff nach ihrer Hand und brachte sie damit zurück ins Hier und Jetzt. „Ich wünschte, ich könnte dir beistehen, Evelyn." „Nenn mich doch bitte Eve", unterbrach sie ihn, weil sich Evelyn aus seinem Mund so schrecklich fremd anhörte. „Okay, du musst mir glauben, ich wünschte ich könnte alles richtigmachen, aber ich kann mich einfach nicht erinnern. So schrecklich es sich anhören mag, ich hab einfach keine Ahnung wer du bist, auch wenn sich mein Unterbewusstsein immer ein ziemlich genaues Bild von dir zeichnet." So gerne hätte sie gefragt, was er ihr damit sagen wollte, aber sie traute sich einfach nicht, stattdessen nickte sie traurig und er seufzte kurz. „Gut, was ist bei dem Attentat genau passiert?", wollte er wissen. „Dieser Kerl, er hat ... er wollte ... er hat auf mich geschossen. Du bist auf mich gesprungen und hast mich damit in den Aufzug gedrängt, dabei hast du die Kugel abgefangen. Du bist für mich in eine Kugel gesprungen, Daniel und das, obwohl du mich gerade mal zwölf Stunden gekannt hast." Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht: „Das war eine gute Entscheidung, daher kommt also die Narbe an meinem Bein?", die Frage hörte sich eher so an, als hätte er das bereits vorher gewusst. Sie bestätigte seine Vermutung wieder mit einem Nicken und überlegte dann kurz wie sie weitersprechen sollte. Er wusste nicht wer sie war, aber war er denn noch der gleiche Mann, den sie am Flughafen kennengelernt hatte? Konnte sie weiterhin genauso mit ihm umgehen wie zuvor? Oder würde er sie schlimmstenfalls sogar auslachen? Aber warum sollte er denn plötzlich jemand anderes sein? Sie beschloss ohne Rücksicht auf Verluste, oder aufgrund falscher Scham, alles auszusprechen und hoffte, dass Daniel sie weiterhin ernst nehmen würde. „Und dann war da dieser blaue Engel." „Ein blauer Engel", wiederholte er gedankenverloren. Laut seufzte sie: „Ja, ich weiß, das hört sich unrealistisch an, aber ..." „Nein", unterbrach er sie. „Ich denke ich habe ihn auch gesehen. Bei dem Unfall." „Bei dem Unfall? Du kannst dich an den Unfall erinnern?" stotterte sie. Er schüttelte den Kopf: „Nur an das Blau." Sofort verflog ihre Hoffnung wieder und Daniel nahm ihre Enttäuschung wahr, weswegen er augenblicklich weitersprach um sie abzulenken. „Gut, danach sind wir also gemeinsam im Fahrstuhl gefangen gewesen. Was haben wir in der Zeit gemacht?", fragte er und wirkte zum ersten Mal wirklich neugierig. „Wir haben uns gegenseitig verarztet, du hast mir etwas aus deinem Leben erzählt und ich habe dir erzählt warum ich nach Miami gekommen bin." „Warum bist du nach Miami gekommen?" „Mein Ex-Mann lebt hier, ich musste noch etwas mit ihm klären." Es schien ihr nicht genug von Bedeutung zu sein, als dass sie die leidige Geschichte mit ihrem Ex hier nochmals ausbreiten wollte. Wenn er sich wieder erinnern würde, wüsste er auch das wieder, doch Daniel wirkte weiterhin interessiert: „Du bist geschieden?" Sie nickte. „Warum?", fragte er. „Weißt du Dan, das hast du mich im Aufzug schon ganz ungeniert gefragt und ich finde diese Frage immer noch ziemlich seltsam. Fast fünfzig Prozent aller Ehen gehen in die Brüche, das ist doch nichts Ungewöhnliches." „Du scheinst mir nicht unbedingt eine Frau zu sein, die so etwas vollkommen unüberlegt tut und es macht mich neugierig. Ich frage mich einfach, was für ein Mensch du bist, Eve. Ich will dir wirklich nicht zu nahetreten, aber ich habe das Gefühl, dass ich das doch eigentlich schon alles weiß, warum willst du es mir jetzt also verheimlichen?" „Mein Ex-Mann hat mich für eine Prostituierte verlassen", antwortete sie kurz angebunden, fühlte dabei jedoch keinen Schmerz mehr. „Arschloch", flüsterte er und fügte dann hinzu: „Das erklärt einiges." Fragend blickte sie ihn an, doch er winkte ab. „Was ist dann geschehen?" Diese Liste schien ihr von großer Bedeutung zu sein, weswegen sie versuchte sich so gut wie möglich daran zu erinnern. „Wir haben eine Liste aufgestellt, mit Dingen, die wir vor unserem Tod noch erleben wollten." Zu ihrer Überraschung zog er genau den Zettel aus der Hosentasche, den er damals im Aufzug beschrieben hatte und breitete ihn vor ihr aus: „Diese Liste?", fragte er. „Ja genau, diese Liste", bestätigte sie. „Haben wir schon Wünsche abgehakt?", wollte er wissen. „Alles, bis auf Kuba." „Wir waren Fallschirmspringen?", überrascht sah er sie an. Sie nickte. „Es war überwältigend, Dan", geriet Eve ins Schwärmen und bevor sie sich stoppen konnte, fügte sie hinzu, „und es war dazu auch noch irgendwie der Tag an dem mir klar wurde, wie verliebt ich wirklich in dich bin." Sie sah beschämt weg, weil ihr diese einseitige Liebe immer noch peinlich war. Sofort griff er zu ihrem Kinn und richtete ihren Kopf so, dass sie ihm in die Augen blicken musste. „Schäme dich nicht für deine Gefühle, Eve. Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht versuchen möchte wieder genauso zu fühlen, denn ich bin mir absolut sicher, dass ich dich geliebt habe. Es fühlt sich einfach nur alles so fremd an." Er hatte sie geliebt. So hatte er es soeben ausgedrückt. Die Erkenntnis schmerzte, dass er im Moment wohl gar nichts für sie fühlte. Trotzdem war er so liebevoll wie immer und sie wollte weiterhin alles versuchen um ihm beim Erinnern zu helfen. Verwundert blickte er wieder auf die Liste hinab. „Dem Arschloch sagen, dass er eines ist, was hat es damit auf sich?" „Wir waren kurz vor deinem Unfall bei einem Eishockeyspiel, dort habe ich meinen Ex mit seiner Hure getroffen. Ich habe ihm mit deiner Hilfe all die Dinge an den Kopf geworfen, die er unbedingt noch wissen sollte. Glaub mir, er weiß jetzt, dass er ein Arschloch ist." Dan lachte: „Da bin ich ja froh, dass ich dir helfen konnte. Wie war das gemeinsame Ausgehen, das ebenfalls auf dieser Liste steht?" Sie seufzte: „Anfangs nicht so gut. Wir hatten einiges getrunken und du wolltest mich eifersüchtig machen, wodurch wir einen kleinen Streit vom Zaun gebrochen haben." „Warte, was? Ich wollte dich absichtlich eifersüchtig machen, warum?" Sie schluckte hart, denn sie wollte eigentlich lieber über die schönen Dinge ihrer Beziehung sprechen, als ihre Streitigkeiten. Wenn es ihm aber dabei helfen würde sich zu erinnern, war es das doch Wert, die alten Auseinandersetzungen wieder auszugraben. „Auch wenn du für gewöhnlich ganz schön selbstbewusst bist, warst du das wenn es um mich ging, nicht immer. Das lag wahrscheinlich an mir, denn ich hatte einfach schreckliche Angst mich zu verlieben und ständig dagegen angekämpft. Alles was du wolltest, war, dass ich meine Gefühle für dich ausspreche, deshalb hast du versucht mich eifersüchtig zu machen und es ist dir auch ziemlich gut gelungen." Entsetzt sah er sie an: „Das tut mir leid." Sie nickte nur halbherzig und setzte dann fort: „Jedoch hast du mir an diesem Abend auch deine Liebe gestanden und wir haben uns wieder zusammengerauft. Die Nacht war schlussendlich aber ziemlich schnell vorüber, weil du es bereits um Mitternacht nicht mehr abwarten konntest mich in unser Hotelzimmer zu zerren." Eve wurde rot und Dan schmunzelte. „Bist du immer so schüchtern?", neckte er sie. Entrüstet schüttelte sie den Kopf: „Daniel, du kannst dich nicht an mich erinnern. Das ist als würde ich mit einem Fremden über Sex sprechen." Wieder griff er nach ihrer Hand: „Auch wenn ich mich nicht an dich erinnern kann, sind wir einander nicht fremd, Eve. Das spüre ich." Sie atmete laut aus, denn das hörte sich in ihren Ohren nach einem Fortschritt an. „War es denn das erste Mal, dass wir Sex miteinander hatten?", wollte er wissen. Sie schüttelte den Kopf: „Wir waren des Öfteren vorher kurz davor, aber irgendwie haben wir uns nicht so richtig wohl gefühlt, so kurz nach dem Attentat", sie sah wieder beschämt weg, „um ehrlich zu sein, hast du dich nicht wohl gefühlt, ich wollte schon länger mit dir schlafen." „Was?", kreischte er ungläubig. „Ja, du hattest zu viel Respekt vor den Toten, aber wir haben das in einer unserer Therapiesitzungen mit Dr. Apple behandelt und danach ist es dann doch geschehen." „Wir haben gemeinsam eine Therapie gemacht?", wiederholte er fragend ihre Worte. „Ja, und es hat geholfen", bestätigte sie. „Und dann? Ich weiß es mag sich seltsam anhören, aber bitte erzähl mir von unserem ersten Mal!" Dieses Mal schien auch er ein wenig zurückhaltender zu sein. „Es war zwei oder drei Wochen nach dem Anschlag. Dein Bein war langsam wieder verheilt und du wolltest zur Tankstelle laufen um dir dein Lieblingssportmagazin zu besorgen. Als du dann weg warst hatte ich ein schreckliches Gefühl, weswegen ich dir gefolgt bin und tatsächlich waren fünf Franzosen gerade dabei dich zu verprügeln." Er sah auf: „Du bist mir gefolgt, weil du so ein Gefühl hattest?" Eve seufzte laut: „Ja, Dan. Ich weiß, dass sich auch das komisch anhört, aber seit dem Terroranschlag können wir fühlen was der jeweils andere fühlt." Eigentlich hätte sie erwartet, dass er irritiert darauf reagieren würde, stattdessen fragte er vollkommen unbeeindruckt: „Deswegen zerreißt es mir seit Tagen fast die Brust? Eve, es tut mir so wahnsinnig leid. Ich wollte dich wirklich niemals so schrecklich verletzen." Überrumpelt sah sie ihn an. Damit hatte sie ganz bestimmt nicht gerechnet. Er konnte ihre Emotionen immer noch spüren? Sie hatte seit Tagen gar nichts gefühlt, außer eisige Leere. Und plötzlich wurde ihr klar, dass das daher rührte, dass er einfach keine Gefühle hatte, die so stark waren, dass sie sie fühlen hätte können. Dan schien zu überlegen und sagte dann: „Gut, lass uns wieder zurück zum Sex kommen." Beschämt nickte sie: „Nachdem du wieder nach Hause gekommen bist ..." „Nach Hause?", unterbrach er sie. Eine frische Träne rollte ihr über die Wange: „Ja, nach Hause." Sie wollte ihm eigentlich sagen, dass er sie für gewöhnlich Home nannte, weil sie für ihn sein Zuhause war und er gleichzeitig auch für sie, brachte es aber einfach nicht über das Herz es auszusprechen. Viel zu sehr hätte es geschmerzt. Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah er sie an und warf dann vollkommen ohne jeden Zusammenhang ein: „Denkst du, ich wollte dich heiraten?" „Heiraten?", wiederholte sie schockiert. „Ich weiß, das ist eine seltsame Frage, aber sie ist wichtig für mich", teilte er ihr mit. „Ich denke ... ich meine ... wir haben darüber gesprochen, dass ... irgendwann ... in ferner Zukunft ... vielleicht." Sie holte tief Luft: „Nein, Daniel. Ich denke nicht, dass du mich heiraten wolltest." „Hättest du ja gesagt, wenn ich dich gefragt hätte?", stellte er eine noch seltsamere Frage. Weil sie nicht wusste worauf er hinauswollte, versuchte sie so ehrlich wie möglich zu antworten: „Es kommt darauf an wann du mich gefragt hättest. Anfangs hatte ich, wie du bereits weißt, unglaubliche Angst vor dieser Bindung und wäre bestimmt schreiend davongelaufen, hättest du mir einen Antrag gemacht, aber kurz vor dem Unfall war ich mir ganz sicher, dass du der Richtige für mich bist. Natürlich weiß ich nicht, wie ich auf eine solche Frage reagiert hätte, aber ich habe mir des Öfteren ausgemalt wie es wäre eine Familie mit dir zu gründen." Gedankenverloren blickte er sie an. Erst nach einigen Augenblicken sagte er abermals: „Okay, zurück zum Sex." Überrumpelt versuchte sie sich wieder zu konzentrieren „Nachdem du also wieder zurück warst, haben wir unseren Gefühlen zum ersten Mal ganz ungefiltert freien Lauf gelassen und sind wie wild übereinander hergefallen." Damit wollte sie dieses peinliche Gespräch über Sex und Ehe eigentlich beenden, aber er fragte: „Wie war es?" „Atemberaubend", antwortete sie, wie aus der Pistole geschossen. „Geht das vielleicht etwas präziser?" Amüsiert zwinkerte er ihr zu. Okay, vielleicht würde es ja helfen, wenn sie ihm ein paar kleine Details lieferte. Den Sex jedoch in allen Einzelheiten zu erzählen, traute sie sich nicht zu. Sie holte tief Luft. „Wir hatten Sex in der Küche." „In der Küche", wiederholte er. „Na ja, um genau zu sein hatten wir vor dem richtigen Sex Oralsex in der Küche. Es war ..." „Warte", unterbrach er sie. „Warte ... warte ..." Er stand auf und begann wie wild im Zimmer umherzulaufen. „Sorry, Eve. Ich brauche eine Pause. Scheiße. Das ist zu viel." Entschuldigend blickte er sie an, ging dann auf das Fenster zu und stützte sich am Fensterbrett ab. „Verdammt, jetzt fühle ich mich wahnsinnig mies", fluchte er. Evelyn verstand nicht: „Was ist los, Daniel? Du brauchst dich nicht mies zu fühlen, du hast mich zu nichts gedrängt. Ich wollte es genauso wie du." „Sorry, Eve. Darum geht es nicht. Es war so unglaublich falsch von mir diese Fragen überhaupt erst zu stellen. Du sitzt vor mir ... und ... und ... ich kann deinen Schmerz fühlen. Und ... ach, ich weiß nicht wie das passieren konnte. Anstatt mich an irgendetwas zu erinnern, ist mir meine Hose plötzlich zu eng. Ich bin so ein blödes, unsensibles Arschloch." Etwas ratlos folgte sie seinem Blick zu seinem Schritt. Seltsamerweise fühlte es sich für Eve, trotz seiner Erregung in dieser seltsamen Situation, wie ein kleiner Fortschritt an. Es mochte sein, dass er sich im Moment nicht an seine Gefühle für sie erinnerte, aber sein Körper konnte sich vielleicht noch an sie erinnern.

Zu ihrem Entsetzen sah er sie traurig an und stammelte dann: „Ich sollte jetzt gehen!" „Was?", kreischte sie empört. Er konnte sie doch jetzt nicht einfach alleine lassen, obwohl er seine Erinnerungen immer noch nicht zurückhatte, „Aber ... aber du kannst dich doch immer noch an nichts erinnern." Er machte einen Satz auf die Tür zu, griff sich mit der flachen Hand an die Brust und zuckte kurz zusammen, während er sich nochmals umdrehte. „Es tut mir leid, Eve. Ich will dich wirklich nicht so sehr verletzen, aber das bringt doch alles nichts." Panik durchfuhr sie und sie sah Daniel an, dass auch er sie spürte. Trotzdem drehte er sich schnell wieder weg und öffnete die Tür. Er trat einen Schritt hinaus, hielt dann nochmal inne und warf einen Blick über seine Schulter. Für wenige Sekunden sahen sie sich einfach nur in die Augen, bevor er sagte: „Eine Frage habe ich noch." Sie nickte. Ihre Wangen waren mittlerweile wieder tränenüberströmt. „Dieser dritte Punkt auf der Liste. Johnny hat mir schon ein wenig darüber erzählt, aber trotzdem bin ich mir noch nicht ganz sicher was ich davon halten soll. Was hat es mit dem Tattoo auf sich?" Vollkommen ausgelaugt kämpfte sie sich aus dem Bett und stellte sich davor. Unfähig etwas zu sagen drehte sie ihm den Rücken zu und hob ihr Shirt an. Als er nach wenigen Augenblicken immer noch nichts sagte, drehte sie sich wieder zu ihm um. Daniel sah aus als wäre er in eine Starre verfallen. Die Hand hatte er an die Stelle gelegt, an der sich sein Tattoo befand.

„Wir müssen nach Kuba", sagte er immer noch wie in Trance.

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