Kapitel 14

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Mit einem Taxi waren Eve und Dan zu seinem Haus gefahren. Kurz vor Mitternacht gaben beide dem Drang nach, sich ihrer Müdigkeit hinzugeben. Leider waren sie schon im Wagen abwechselnd schreiend aus ihren Alpträumen aufgewacht. Das konnte eine lange Nacht werden. Inzwischen traute sich Eve nicht mal mehr die Augen schließen, weil dann sofort das Bild der kleinen Amelie in ihren Gedanken auftauchte. Das Mädchen lebendig und freudestrahlend. Nur wenige Sekunden später, das gleiche Mädchen, mit einem blutenden Loch zwischen den Augen. Evelyn war mehr als nur dankbar, dass sie nicht noch mehr Menschen beim Sterben beobachten musste. Die Bilder der Kleinen waren schon zu viel für sie. Und auch Dan schien in der letzten Stunde einiges zu verarbeiten, dass er zuvor noch nicht richtig realisiert hatte. Bisher war er der Starke der beiden gewesen, aber mittlerweile fühlte sie einen tiefen Schmerz von ihm ausgehen. Er war kurz davor zusammenzubrechen. Das konnte sie ihm ansehen. Und nach all den Stunden in der er sich für sie am Riemen gerissen hatte, war es nun an der Zeit für ihn stark zu sein.

Mit hängenden Schultern öffnete er die Tür zu seinem Ferienhaus. So kannte man diese Unterkunft eigentlich nicht bezeichnen in die sie gerade eintraten. Dieses Anwesen wirkte als wäre es gerade erst erbaut worden. Und außerdem machte es ganz den Anschein, als hätte es mehr gekostet, als Evelyn in ihrem ganzen Leben verdienen würde. Doch um sich genauer umzusehen blieb keine Zeit, denn sie wollte ihn keine Sekunde alleine lassen.

Seufzend blickte Dan sie an: „Möchtest du dir als erstes ein Zimmer aussuchen, Evelyn? Oder brauchst du sonst irgendetwa?" Sie schüttelte den Kopf und lächelte dann leicht: „Wenn es dich nicht stört, würde ich gerne mit dir in einem Zimmer schlafen. Ich weiß es ist etwas seltsam ..." Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen, schüttelte seinen Kopf und unterbrach sie damit, mitten in ihren Ausführungen. Ja, sie fand die Vorstellung mit Dan in einem Bett zu schlafen, obwohl sie sich nicht wirklich kannten etwas komisch, aber nicht abstoßend, im Gegensatz zu dem Gedanken alleine zu sein, welcher schreckliche Angst in ihr hervor rief. Dankbar blickte er sie an und zog sie zu einer kurzen Umarmung an sich. Beinahe hätte sie ihm gesagt, dass ihr der Dank nicht gebührte, weil ihr Antrieb gemeinsam mit ihm einzuschlafen viel mehr als nur ein eigennütziger war. „Ich würde aber sehr gerne duschen, wenn das möglich ist", sagte sie, obwohl es wirklich das letzte war, was sie im Moment tun wollte. Sich jedoch so neben ihn zu legen, würde nicht in Frage kommen. Eve hatte immer noch Blutspuren auf ihrem Körper und wie sie mittlerweile roch versuchte sie zu verdrängen. Obwohl ihr vor dem Ausblick graute, alleine im Badezimmer sein zu müssen, blieb es ihr nicht aus sich zu Waschen. Am liebsten hätte sie ihn darum gebeten mit ihr in die Duschkabine zu kommen.

„Ja, das ist wohl eine gute Idee. Ich sollte mich auch endlich frisch machen. Wahrscheinlich rieche ich mittlerweile wie ein nasser Hund", versuchte sich Dan an einem kleinen Scherz,, um die beklemmende Stimmung wieder etwas zu lockern. Eve beschloss darauf einzusteigen, denn sie wusste, dass sie so ein paar Dämonen vertreiben konnte: „Ach Dan, dein Duft ist immer noch betörend." Damit versuchte sie sich an einem lasziven Lächeln, welches ihr aber nicht so recht gelingen wollte. Auch Dan grinste für eine Sekunde, bevor er über die Treppe hinauf blickte. „Evelyn, könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun? Es befindet sich zum Glück auch im Erdgeschoss ein Badezimmer. Ich möchte mich jetzt nicht über die Treppe quälen, um kurz danach wieder nach unten humpeln zu müssen. Glaubst du, du könntest mir ein paar gemütliche Klamotten aus meinem Schrankraum holen! Nimm dir doch selbst auch etwas zum Anziehen mit." Offenkundig musterte er sie. Sie trug bis auf die Unterwäsche, nur Kleidung die ihr das Krankenhaus zur Verfügung gestellt hatte. Auch seine Jogginghose stammte aus dem Besitz der Klinik, denn ihr Gepäck war nach all den Geschehnissen vollkommen in den Hintergrund gerückt. Sie wusste nicht, ob es nun als verloren galt und sie es jemals wieder zurückbekommen würde. Daran hatte sie bis jetzt auch keinen Gedanken verschwendet und niemand hatte auch nur ein Wort darüber verloren. Deshalb stand sie jetzt nur mit ihrem Handgepäck ausgestattet in Dans Haus. Darin befanden sich gerade Mal ein paar Magazine, ein Jahresvorrat Schokolade und stilles Mineralwasser. Eine Uhr, eine Sonnenbrille und ein Parfüm. Morgen müsste sie sich wohl die nötigsten Dinge besorgen. Zum Glück hatte sie wenigstens eine Zahnbürste bei sich. Doch plötzlich fand sie es nicht mehr ganz so wünschenswert das Geld ihres Ex-Mannes auszugeben. Geld hatte auf einmal einen viel geringeren Stellenwert für sie. Sie war so kurz davor gestanden zu sterben, dass sie jetzt alles in Frage stellte. All diese materialistischen Dinge hatten doch nichts damit zu tun, warum sie auf dieser Welt waren. Den Sinn des Lebens kannte sie natürlich immer noch nicht, aber sie wusste, dass es ganz bestimmt erstrebenswert war anderen Leuten helfen zu können und vollkommen uneigennützig Gutes zu tun.

„Wo befindet sich denn der Schrankraum?", fragte sie und wurde plötzlich, trotz der Müdigkeit und den gemischten Gefühlen, schrecklich neugierig. Wie lebte dieser Mann, der ihr irgendwie ein Rätsel zu sein schien. Immerhin strahlte er etwas ganz anderes aus, als er tief in seinem Inneren war. Und er wollte es so, mochte es dem Anschein nach sogar, Menschen vor den Kopf zu stoßen. „Im zweiten Obergeschoss ist mein Schlafzimmer. Darin gibt es nur zwei Türen. Es ist die linke, die zum Schrank führt." Schnellen Schrittes sprintete die Treppen hinauf und riss die Tür zu Daniels Schlafzimmer auf. Es war ein riesiges Schlafzimmer mit weißen Wänden und großen Fenstern. An der Wand hinter dem Bett hing ein Gemälde, das wohl in abstrakter Kunst zwei Körper darstellen sollte.

Sie konnte sich nicht zurückhalten und ging zuerst auf die rechte Tür zu. Auch in diesem Badezimmer war alles vollkommen gradlinig und gleichzeitig übertrieben, wie der Rest des Hauses. Eine riesige Dusche befand sich darin, genau wie ein Jacuzzi, der jedem Spa-Bereich Konkurrenz gemacht hätte. Leise schloss sie die Tür wieder um sich nicht zu verraten und ging dann in den Schrankraum. Dieser Mann hatte äußerst viele Klamotten. Vor allem wenn man bedachte, dass das nur sein Ferienhaus war. Sie suchte sich durch seine unzähligen Hosen, die von eleganten Anzughosen, in denen Eve ihn sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, bis zu ganz normalen Jeans und Jogginghosen reichten. Es war zu heiß für lange Kleidung, weswegen sie sich umdrehte und seine Basketballshorts durchforstete. Sie schnappte sich zwei Stück und griff sich dann von einem Stapel zwei T-Shirts. Es sollte nicht so aussehen, als hätte sie sich zu viel Mühe beim Aussuchen der Klamotten gegeben, denn sie würde sowieso in jedem seiner Kleidungsstücke lächerlich aussehen. Immerhin überragte er sie um zwei Köpfe. Im Gegensatz zu ihm war sie ein Zwerg.

Er grinste, als sie die letzte Treppe hinunter stieg. „Bringst du mir jetzt etwa Arbeitskleidung?" Eve wurde rot, weil sie sich nicht ganz sicher war, ob sie vielleicht etwas Falsches gewählt hatte. Hätte sie etwas anderes bringen sollen? Aber sie hatte die Klamotten doch gar nicht so genau betrachtet. Klar hatte sie gewusst, dass es sich bei den Hosen um Basketballshorts handelte, aber war das denn jetzt ein Problem? Immer noch sah er sie belustigt an. Jetzt wahrscheinlich mehr deshalb, weil er verstanden hatte, dass sie gar nicht wusste, was es mit den Kleidungsstücken auf sich hatte. Er griff sich das schwarze T-Shirt und hielt ihr das andere hin. Erst jetzt erkannte sie, dass dieses aus einem vollkommen anderen Stoff war, als ein normales Shirt.

Kurz lachte er: „Ich weiß zwar nicht, ob es eine gute Idee ist, dir mein Trikot zu überlassen, denn ich bin sicher, dass du darin wahnsinnig sexy aussiehst, aber ich will dich auch unbedingt damit bekleidet sehen." Er biss sich kurz auf die Unterlippe. Nun war die Anspannung, die er bis vor kurzem ausgestrahlt hatte vollständig verflogen. Und auch das Stechen in Eves Brust ließ nach und wanderte weiter runter in ihren Unterleib, wo es sich fordernd und trotzdem angenehm ausbreitete. Ja, es war wahrscheinlich blöd, nach einem katastrophalen Tag wie diesem an Sex zu denken und sie wusste, dass sie es sofort bleiben lassen sollte, aber der Blick den er ihr schenkte ließ es einfach nicht zu, sich wieder auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren.

Dazu kam die Tatsache, dass sie nicht an Amelia denken musste, solange sie darüber nachdachte, wie es wohl wäre, wenn Daniel ihr das Trikot gleich nach dem Anziehen wieder ausziehen würde. Natürlich war Ablenkung bestimmt nicht die beste Lösung um mit den Geschehnissen fertig zu werden. Wahrscheinlich wäre es besser sich ihrer Angst zu stellen, aber Ablenkung war immer noch besser als dieser Schmerz, den sie sonst fühlte, weswegen sie ihre Gedanken noch ein wenig weiterspann. Elektrisiert schrak sie zurück, als sie bemerkte, dass sie unwillkürlich über ihren Brustansatz gestreichelt hatte.

Wahrscheinlich sollte sie es ihm, selbst in ihren Gedanken, verbieten, ihr so nahezukommen, wenn sie wollte, dass er sich weiterhin nicht in ihr Herz schlich. Außerdem sollte sie es sich selbst verbieten auf diese Art und Weise an ihn zu denken. Aber im Moment wollte sie sich nicht stoppen, denn es gab nur zwei mögliche Gedankengänge. In der ersten Vorstellung kamen nur Daniel und sie vor und sie waren dabei splitterfasernackt. Ob wohl sein ganzer Körper mit Tätowierungen übersät war?

Zerstört wurde diese Phantasie nur dann, wenn sie sich die Ablenkung selbst nicht gewährte und sich dem zweiten möglichen Gedankengang hingab, indem sie wieder an Amelia dachte. Dann drohte sie wieder in ein dunkles Loch gezogen zu werden.

Sie blickte ihm eindringlich in die Augen: „Was hältst du davon, wenn wir duschen gehen?"

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