Kapitel 6

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Sanft spürte Eve eine Hand auf ihrer Schulter und wurde dadurch aus dem Schlaf geweckt. Sie war angeschnallt und ihr Sitz war abermals in eine aufrechte Position gebracht worden. Vorsichtig blickte sie nach oben, in das immer noch äußerst attraktive Gesicht von Daniel, der im Gang vor ihr stand. Leider ließ dieser Anblick ihr Herz ein wenig schneller schlagen. Scheiße. Es war höchste Zeit getrennte Wege zu gehen, bevor er sich noch in ihre Brust brennen würde, obwohl sie jetzt bereits bezweifelte, dass sie ihn jemals wieder vergessen könnte. Er würde immer der Mann bleiben, den sie auf dem Flug nach Miami kennengelernt, und der sie mit seiner Art vollkommen in seinen Bann gezogen hatte.

Sie blickte sich um und stellte fest, dass auch die anderen Passagiere bereits aufgestanden waren. „Wir sind da, Evelyn." Langsam schnallte sie sich ab und erhob sich ebenfalls, bevor sie ihr attraktives Gegenüber ein wenig zu offensichtlich begutachtete. Sanft lächelte er. Um sich nicht länger der Peinlichkeit hingeben zu müssen, beim Schmachten erwischt worden zu sein, fragte sie: „Dan, würdest du mir denn bitte noch mein Gepäckstück aus dem Abstellfach holen?"

„Natürlich", antwortete er lächelnd, „Wie kommst du denn vom Flughafen weg?"

„Ich nehme mir ein Taxi", sagte sie, während er ihren kleinen Koffer herunter hievte. „Dann bringe ich dich noch zu dem Taxistand", bot er sich an. „Du kannst deine Koffer doch ohnehin nicht alleine tragen. Komm!", er hielt ihr die freie Hand hin, die sie ohne Widerrede packte. Was für eine Ironie des Schicksals. Vor zehn Stunden war sie in dieses Flugzeug gestiegen und hatte diesen Menschen abgrundtief gehasst und jetzt wo sie wusste, dass sie ihn gleich zum letzten Mal sehen würde, schmerzte ihr Herz tatsächlich ein wenig. Schweigend liefen sie bis zu den Schaltern für die Einreise in die USA. Zum Glück befanden sich dort fast keine Menschen und sie waren schnell dazu berechtigt für ihre geplante Aufenthaltsdauer hierzubleiben. Dan blieb stehen und wartete darauf, dass sie ihn wieder einholte, bevor er neben ihr weiterging.

„Gibt es denn eine Möglichkeit mich bei dir zu melden?", fragte er und beobachtete dabei jede ihrer Gefühlsregungen. Merklich zuckte sie zusammen. Seine Worte hatten sie getroffen wie ein Vorschlaghammer. Ja, natürlich wollte sie ihn wiedersehen, aber das durfte sie sich selbst nicht erlauben. Er war zu gefährlich.

Sie seufzte: „Ich denke, das wäre keine gute Idee."

„Warum nimmst du das denn an? Ich dachte, wir verstehen uns ganz gut. Was spricht also dagegen?" Entsetzt starrte er sie an.

„Ich habe einfach keine männlichen Freunde, Dan. Klar, ich mag dich, aber das wäre einfach nicht richtig."

Daniel schnaubte leise und wirkte beinahe ein wenig wütend. „Wovor hast du Angst?", fragte er und schenkte ihr dabei einen eindringlichen Blick. Entsetzt taumelte sie einen Schritt zurück, doch er schob sie einfach weiter. Was sollte sie darauf antworten? Ich fürchte mich davor, dass wir uns ineinander verlieben und du mich schlussendlich für eine Hure verlassen könntest? Das war keine Option. Auch einfach zu sagen, dass sie Angst vor Gefühlen hatte, war keine gute Idee. Was, wenn er diese Anziehung gar nicht so empfand wie sie und sie wirklich nur als Freundin wollte, wäre das dann nicht irgendwie peinlich? Aber war das nicht egal? Warum sollte sie ihn anlügen, sie hatte doch sowieso nicht vor ihn wieder zu sehen. „Ich habe Angst davor mich in dich zu verlieben", verlegen starrte sie auf den Boden neben ihm.

Er lachte laut los, woraufhin sie ihn entsetzt anblickte. Lachte er sie nun etwa aus? Das fand sie äußerst unfair, nachdem es sie doch schon einige Überwindung gekostet hatte es laut auszusprechen. „Du hast recht, es wäre auch wirklich schrecklich, wenn du dich in mich verlieben würdest. Immerhin bin ich ein rücksichtsloses Arschloch." Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob er ernst meinte, was er da sagte, aber er grinste einfach nur. „Ach komm schon, Evelyn. Gib mir doch wenigstens eine Chance." Er wollte auf die Rolltreppe steigen, als sie abrupt stehen blieb. Was hatte er da gerade gesagt? Nein, nein, nein, das lief einfach alles in die vollkommen falsche Richtung. Das konnte einfach nicht sein. Er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr einen qualvollen Blick. „Evelyn, du musst dich doch nicht sofort entscheiden, ob du mich wiedersehen willst, aber wenn du mir jetzt nicht wenigstens deine Nummer gibst, wird es wahrscheinlich keine Möglichkeit geben, wie wir uns wieder treffen könnten." Immer noch war sie wie in Trance. „Dan, das ... das ... geht einfach nicht." Was sie genau meinte, dass nicht ging, wusste sie im Moment selbst nicht. Nichts von all dem worum er sie bat war möglich. Sie durfte sich einfach nicht der Gefahr aussetzen wieder so schreckliches Pech zu haben. Hinter sich nahm sie einen Ton war, der sie dazu brachte sich umzudrehen. So konnte sie wenigstens für ein paar Sekunden Daniels stechendem Blick ausweichen. Der Aufzug, dessen Ton sie wohl wahrgenommen hatte, öffnete sich und wie automatisch, beobachtete sie die Menschen, die ihn verließen. Ein kleines Mädchen hüpfte freudestrahlend heraus. Was hätte Eve nur dafür gegeben im Augenblick ebenso viel Vertrauen in das Leben zu haben, wie dieses Kind. Unbeschwert und vollkommen ohne schreckliche Vergangenheit. Sie würde alles dafür tun noch einmal von vorne beginnen zu können. Oder zumindest das Kapitel „David" aus ihrem Leben streichen zu können. Doch dann wäre sie jetzt nicht hier und hätte gar nicht die Möglichkeit Dan ihre Nummer zu geben. Es jedoch einfach als Schicksal anzusehen, dass alles so gelaufen war, konnte sie nicht. Welches verdammte Schicksal sah es für einen Menschen vor, für eine Prostituierte verlassen zu werden? Ein lauter Knall riss sie aus ihren Gedanken und hallte in der großen Halle wieder.

Erschrocken blickte sie sich um, als noch ein zweiter folgte. Der Raum um sie begann sich zu drehen. Schreie dröhnten durch die Ankunftshalle. Ein leicht scharfer, chemischer Geruch lag in der Luft. Unfähig sich zu bewegen blickte sie geradeaus. Das kleine Mädchen, das sie gerade noch beneidet hatte, brach vor ihr zusammen. Blut strömte über ihr Gesicht, tropfte von ihrer Nase und hinterließ eine kleine rote Pfütze am Boden, während ihr Körper leblos auf den Fliesen zusammensackte. Ein Alarm wurde ausgelöst und eine schrille Sirene ertönte. Menschen liefen an ihr vorbei zu der Rolltreppe, stürzten hinunter. Bäm, bäm, bäm. Dann flogen sie abwärts. Blut, mehr Blut, überall Blut. Eve war zu einer Säule erstarrt, sie war kurz davor panisch zu werden. Was geschah hier gerade? Wieder richtete sie den Blick über die Schulter und fing Dans entsetzten Gesichtsausdruck auf. Bäm, bäm, bäm. Der Lärm war ohrenbetäubend laut. Sie spürte einen Schmerz an ihrer Hüfte und konnte sich nicht erklären, woher er kam. Plötzlich wurde sie in den Aufzug gestoßen aus dem das Mädchen gekommen war. Ein Gewicht landete auf ihr, während sie am Boden lag. Irgendetwas rann warm ihren Knöchel hinunter. Es knallte abermals. Teile sprangen im Fahrstuhl herum. Der Aufzug setzte sich in Bewegung und fuhr ein paar Zentimeter abwärts. Dann gab es eine kleine Explosion. Die Steuerung des Fahrstuhls sprühte Funken und der Aufzug ruckelte, bevor er einfach stecken blieb. Das Licht ging für eine Sekunde aus, jedoch flackerte es sofort wieder an. Entsetzt wollte sie aufspringen, wurde aber von einer Hand nach unten gedrückt. „Nicht", schrie Dan, um den Lärm der Schüsse und die Schreie der Passanten zu übertönen. „Bleib am Boden liegen, bitte Evelyn, bist du verletzt?" Verletzt? Sie? Warum lag Dan schon wieder auf ihr? Aber noch viel wichtiger, was passierte hier gerade? „Was ist mit dem kleinen Mädchen, Dan? Was ist mit ihr passiert? Warum blutet sie? Was ist hier los?" Schreiend schlug sie mit den Fäusten gegen den Boden, wurde aber immer noch von Schüssen übertönt. Jedoch gab es mittlerweile keine so kurz aufeinanderfolgenden Knallgeräusche mehr. „Evelyn, du musst mir zuhören, beruhige dich, bitte. Wir müssen ruhig bleiben. Dieses Arschloch darf nicht bemerken, dass wir noch leben. Wir müssen dich verarzten, du wurdest getroffen." Sie schloss die Augen und versuchte zu verstehen, wovon er da sprach. Für einige Augenblicke atmete sie tief durch, bevor sie die Tränen von ihren Wangen wischte, die ganz ohne dass sie es bemerkt hatte über ihr Gesicht liefen. Alles geschah nun wie in Zeitlupe. Vor ihrem geistlichen Auge bildeten sich Szenen. Das kleine Mädchen, blutverschmiert am Boden. Sie selbst, wie sie ein stechender Schmerz durchzuckte. Als Nächstes sah sie Dan, während sie über ihre eigene Schulter blickte und dann sah sie noch etwas anderes. Da stand er. Schräg hinter ihr, nur wenige Meter von ihr entfernt und er zielte auf sie. Ihr Kopf hatte das alles gar nicht so schnell verarbeiten können, wie es geschehen war. Er drückte den Abzug im selben Moment, in dem Dan auf sie gesprungen war. Dan war für sie in eine Kugel gesprungen. Sie spürte das Blut immer noch an ihrem Knöchel, während sie lauschte und hin und wieder einen Schuss hörte. Dieser Arsch war immer noch hier im Flughafengebäude und tötete. Wo blieb bloß die Polizei. Wie konnte das alles nur sein? Es kam ihr so vor als wären bereits einige Minuten vergangen. Doch in Wirklichkeit war es wahrscheinlich gerade mal eine.

„Dan, ich denke du bist schlimmer verletzt als ich, wir müssen zuerst dich verarzten." Sie fuhr mit den Fingern an ihrer Hüfte entlang. Soweit sie es unter dem Gewicht von Daniel ertasten konnte, war das nur ein Streifschuss gewesen. Das und die Tatsache, dass sie wohl unter Schock stand ließen sie fast keinen Schmerz spüren. Sie versuchte unter Dan hervor zu krabbeln, schaffte es jedoch nicht. „Dan!" Sie stupste ihn an, doch er rührte sich einfach nicht. Wild zappelte sie herum. Panik durchfuhr sie: „Dan ... Dan, bitte sag, dass du nicht tot bist." Die Tränen verselbstständigten sich abermals und rannen heiß über ihre Wangen, während sie laut losschluchzte.

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