Zu Eves Verwunderung zog Dan sie auch wieder vollständig an, strich sogar sorgsam ihr Haar glatt. „Komm, Evelyn", sagte er, nachdem er auch selbst wieder Klamotten übergeworfen hatte. Er hielt ihr die Hand hin und sie griff sofort danach. Bevor sie dazu kam ihn zu fragen was er vorhatte, hatte er sie schon bis zur Tür geschoben und sie angewiesen sich Schuhe anzuziehen. „Schnapp dir die Dinge die du für Amelia vorbereitet hast", bat er sie, „wir fahren zum Flughafen." Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Natürlich stand das auf ihrer Prioritätenliste ganz weit oben, aber sie war bisher dennoch recht glücklich darüber gewesen, dass sie es noch vor sich herschieben hatte können. Heute musste sie sich aber ihrer Angst stellen und sie war froh, dass Dan den Ausschlag dazu gab, denn sie wusste nicht, ob sie sich sonst womöglich noch länger davor gedrückt hätte. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als sich ihren Ängsten zu stellen. Sie griff sich ihre Handtasche in der sich die Kerze und der Brief befanden und hängte sie über ihre Schulter. Aufmunternd lächelte Dan sie an: „Keine Sorge, Evelyn. Wir schaffen das gemeinsam. So wie wir bisher alles gemeinsam geschafft haben. Außerdem haben wir danach einen Termin bei Dr. Apple. Sollte dir das alles zu nahe gehen, wird sie uns schon sagen, wie wir am besten vorgehen müssen, um mit dieser Situation fertig zu werden." Seufzend sah sie ihn an, drehte sich dann weg und wandte den Blick zu Boden. Warum war sie nur schon wieder so ein Baby und Daniel so verdammt mutig? Sie schämte sich abermals dafür, dass sie so ein Angsthase war, während Dan vollkommen positiv ihrem Vorhaben gegenüber gestimmt zu sein schien. „Liebling, uns sind schlimme Dinge widerfahren. Es ist ganz normal Angst zu haben. Auch wenn du vielleicht glaubst, dass es mir anders geht, ich kann meine Furcht einfach nur besser verstecken als du. Aber das ist vollkommen in Ordnung. Jeder Mensch verarbeitet Tragödien anders. Jedoch scheinen wir ziemlich gut damit umgehen können, solange wir zusammen sind." Er lächelte leicht, bevor er noch hinzufügte: „Übrigens, wegen der Aufgabe die uns Dr. Apple gestellt hat. Ich habe vor, das Dach der Garage zu reparieren, weil es irgendwo undicht ist. Da ich mir laut Therapieplan keine Hilfe holen darf und wir außerdem alles gemeinsam machen müssen, werden wir das wohl in den nächsten Tagen erledigen. Dabei kannst du dich schon einmal auf die Höhe einstellen, die rein gar nichts sein wird, im Vergleich dazu was uns erwartet, wenn wir Fallschirmspringen gehen." Es war eindeutig, dass er es nun darauf abgesehen hatte, sie abzulenken. Doch so richtig wollte es einfach nicht klappen. Ihre Finger zitterten, aber Daniel griff danach und sofort löste sich die Anspannung in ihr etwas. Gemeinsam liefen sie zu seinem Auto und fuhren zum Flughafen. Dort angekommen fühlte sich alles genauso an wie in ihrem Traum. Sie hatte panische Angst davor, die Geschehnisse noch mal durchleben zu müssen, die ihr für gewöhnlich im Schlaf unterkamen und fast wartete sie darauf, dass Daniel einfach verschwinden und sie plötzlich alleine sein würde. Alles wirkte ganz genau wie in ihren Alpträumen. Schlief sie vielleicht wirklich? Hatte sie vielleicht auch einfach nur einen Sextraum gehabt und dieser Tag, inklusive der Schlägerei, war gar nicht passiert? Jedoch hatten sich seine Berührungen so echt angefühlt, dass das einfach nicht sein konnte. Außerdem blieb Daniel die ganze Zeit an ihrer Seite, während sie auf den Eingang zu schlenderten und auch nachdem sie durch die Schiebetür getreten waren, stand er immer noch neben ihr und hielt ihre Hand. Hier änderte sich plötzlich etwas in ihrer Wahrnehmung. Die Umgebung wirkte anders auf sie, als sie es normalerweise in ihrem Traum tat. Was jedoch genauso aussah wie in ihrem Traum, war die kleine Gedenkstätte neben der Rolltreppe. Es kostete ihr alle Kraft sich vorwärts zu bewegen und auch Daniel schien plötzlich ein wenig unsicher zu werden. Sie spürte wie er sich ebenfalls davor fürchtete wieder an diesen Ort zurückzukehren und entschied deshalb, dass es nun für sie an der Zeit war stark zu sein. Bestimmt hatte Evelyn schon einiges seiner Kraft geraubt und es war wichtig, dass sie endlich etwas zurückgab. Fester drückte sie seine Hand, während sie aus eigenem Antrieb auf die Trauerstelle zulief. „Daniel, das was uns geschehen ist, wird hier ganz bestimmt nicht mehr passieren. Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass es wieder Anschläge auf Flughäfen geben wird, dieser hier wird nun sicher viel besser gesichert und auch dieser Wahnsinnige ist zum Glück tot." Früher hatte sie immer gedacht, dass jedes Menschenleben kostbar sei, auch wenn die Person noch so schlecht war, aber mittlerweile hatte sie diese Gefühlsregung ausgeblendet. In ihrem tiefsten Inneren hoffte sie sogar, dass er einen schmerzhaften Tod erlitten hatte. Es waren keine richtigen Rachegedanken, sie malte sich nicht aus wie es ihm schlecht ging. Es war nur eine Hoffnung, etwas das ihr darüber hinweghalf, den Schmerz in Amelias Augen im Kopf zu haben. Leise schluchzte Daniel und sie fühlte den Kampf den er in sich austrug um für sie stark zu bleiben, doch dieses Mal wollte sie das nicht. Auch er sollte die Möglichkeit haben zu trauern. Vor der Gedenkstelle angekommen kniete sie sich auf den Boden und zündete die Grabkerze an. Daneben legte sie den Brief auf den Boden. Für einige Minuten versuchte sie sich an die ausgelassene, lebende Amelia zu erinnern. Sobald sie aber drohte in dunkle Gedanken abzudriften erhob sie sich wieder und wandte sich Dan zu. Seine Augen waren glasig und er zitterte leicht. Fest zog sie ihn an sich und er ließ sofort seinen Kopf in ihre Halsbeuge fallen. Sie spürte warme Tränen an ihrem Schlüsselbein und küsste ihn vorsichtig auf die Schläfe, während sie mit der Hand über sein Haar streichelte. „Dan, vielleicht war das alles Schicksal. Möglicherweise musste es einfach so sein. Wir sollten uns damit abfinden, dass wir es nicht ändern können und akzeptieren, dass diese Menschen nur in unseren Herzen weiterleben werden."
„Aber warum sind wir dann noch hier?", schluchzte er. Diese Frage hatte sich auch Evelyn schon des Öfteren gestellt. Weil sie es jedoch auch nicht wusste, gab sie ihm die Antwort, die für sie irgendwie am meisten Sinn ergab: „Vielleicht haben wir noch eine Aufgabe hier auf dieser Welt. Vielleicht war es einfach noch nicht an der Zeit für uns zu gehen. Ich meine, dieser Engel, glaubst du nicht, dass er aus einem bestimmten Grund da war?" Daniel löste sich leicht von ihr und sah sie mit großen Augen an: „Du denkst, dass dieses blaue Ding ein Engel war?" Unsicher taumelte sie einen Schritt zurück. Sie hatte es laut ausgesprochen und jetzt war es zu spät es zurückzunehmen. Natürlich hätte es alles sein können, vielleicht sogar nur eine optische Täuschung, aber das war es, was sie sich in ihrem Kopf zusammengereimt hatte, deshalb zuckte sie leicht mit den Achseln: „Für mich hat es ausgesehen, wie eine Gestalt mit Flügel und der Gedanke daran, dass es sich dabei um einen Engel gehandelt haben könnte, hat mich seltsam erleichtert. Ich mag es einfach, es so zu sehen. Natürlich wäre es möglich, dass ich jetzt nur verrückt werde, dennoch halte ich an dieser Meinung fest. Bitte urteile nicht falsch über mich, denn deine Meinung über mich ist mir wirklich wichtig. Ich bin ganz bestimmt keine dieser Esoterik-Mütterchen, die überall in ihrem Haus Räucherstäbchen aufstellen, aber das ist es nun mal was ich denke gesehen zu haben und auch wenn es so scheint als wäre ich eine Wahnsinnige, ergibt das in meinem Kopf irgendwie Sinn."
Er schüttelte leicht den Kopf und sie befürchtete, dass er ihr einen Vortrag darüber halten würde, warum sie vollkommen übergeschnappt war, aber zu ihrer Verwunderung sagte er: „Immer wenn du geschlafen hast und wieder diese Alpträume hattest, bin ich in Gedanken zurück an diesen Ort gereist, um herauszufinden, was es war, das uns gerettet hat. Niemals habe ich auch nur eine einigermaßen glaubhafte Erklärung dafür gefunden, was an diesem Tag geschehen ist. Aber deine Erläuterung ist durchaus möglich. Warum sollte es nicht etwas geben, das über uns wacht? Aber auch wenn in Wirklichkeit nichts dergleichen existiert, sollte es uns immer noch freistehen, es als beruhigende Annahme zu benutzen."
Lächelnd schüttelte sie den Kopf über ihre eigene Dummheit. Niemals hätte sie gedacht, dass sie an diesem Ort lächeln könnte, aber das schien ihr mehr als nur amüsant. Die ganze Zeit über, hatte sie die Sorge gehabt, Daniel würde sie für verrückt erklären, wenn sie mit ihrer Theorie ankam und jetzt reagierte er, wie eigentlich immer. Er hielt ihr die Hand und gab ihr das Gefühl, dass es nichts auf dieser Welt gab für das sie sich schämen müsste. Wollte sie wissen lassen, dass sie jederzeit über alles mit ihm sprechen konnte und dass er einfach immer für sie da war. Warum zum Teufel hatte sie sich ihm nicht gleich anvertraut? Ja, dieser Vertrauensbruch ihres Ex-Mannes zerrte immer noch schrecklich an ihr und deshalb fiel es ihr nicht leicht sich auf andere Menschen einzulassen, aber sie wusste, dass Daniel sie, wenn es um diese Freundschaft ging, niemals hintergehen würde. Er war ihr bester Freund, ein Teil ihrer Familie, fest in ihrem Herz verankert, genauso wie sie in seinem. So lange sie sich nicht wünschen würde, ihn zu ihrem festen Freund zu machen, würde er sie ganz bestimmt niemals verletzen. Vorsichtig blickte sie zu ihm auf: „Denkst du, wir sollten das Dr. Apple anvertrauen?" Er zuckte mit den Schultern: „Falls du denkst, sie wird uns deshalb für verrückt erklären, liegst du ganz bestimmt falsch. Viele Menschen glauben an etwas Übernatürliches. Gott, Allah, Brahma, Shiva ... Solche Glaubensrichtungen gibt es schon seit Jahrhunderten. Du bist ganz bestimmt nicht die Erste, die glaubt eine Lichtgestalt gesehen zu haben. Wenn du es also ansprechen willst, ist es okay für mich und ich werde hinter dir stehen. Solltest du es aber für dich behalten wollen, akzeptiere ich das ebenso."
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Seelentattoos
RomanceAls Evelyn am Flughafen auf Daniel trifft, wirkt er auf sie genau wie der Typ Mann auf den sie sich nie wieder einlassen will. Mit all den Tattoos und seiner arroganten Art, macht er ihr bereits bei ihrer ersten Begegnung klar, dass er ganz genau we...