Naiv

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Nicht nochmal, dachte ich.
Bemerk mich nicht, dachte ich.
Und zu meiner Überraschung sah er mich nicht einmal an. Er ging einfach an mir vorbei.
Ich atmete erleichtert die Luft aus, die ich angehalten hatte.
Zwar war mir irgendwie klar, dass wenn seine Eltern neben ihm her liefen, er nicht auf mich einprügeln würde, aber bei ihm weiß man ja nie.
Im ersten Moment bricht er dir fast die Nase, kurz darauf lässt er dich einfach gehen.
Vielleicht hatte er Schuldgefühle?
Nein, sicher nicht.
Sebastian und Reue - das passte nicht zusammen. Er war immer der, der extra nochmal zuschlug. Er hatte die Anderen dazu gebracht, mich zu hassen. Und den Grund dafür kannte ich nicht einmal.
Er hatte einfach angefangen mit dummen Kommentaren, mit herumschubsen und letztlich richtigen Schlägen.
Vielleicht war meine Anwesenheit schon Grund genug.

Ich schloss die Haustür auf, meinen Schlüssel hatte ich in der Hosentasche - und betrat den Flur.
Wieder überflog ich kurz die auf dem Boden liegenden Briefe, die die selben wie gestern waren. Ungeöffnet.
Ich hob sie auf und legte sie auf die kleine Kommode neben der Tür.
Da ich nicht mit blutverschmiertem Gesicht meiner Mutter gegenübertreten wollte, ging ich kurz ins Bad und wusch mein Gesicht.
Dann, ohne große Erwartungen, ging ich ins Wohnzimmer. Ich rollte mit den Augen und wollte den Raum wieder verlassen, als ich Mark auf dem Sofa sitzen sah. ,,Oh Felix. Wärst du so nett und gehst kurz zum Kiosk eine Flasche Wein kaufen?",fragte meine Mutter. Ich seufzte lautlos, danke für die Begrüßung. ,,Klar, mit 16",sagte ich ironisch.
,,16? Ach stimmt."
So viele Gehirnzellen schon weg?
,,Gehst du?",fragte sie ihren Freund, der heute scheinbar nicht aus streit aus war.
Er legte den Kopf in den Nacken und stöhnte genervt auf. ,,Was kann ich denn dafür, dass dein Sohn zu blöd ist Alkohol zu kaufen?"
Also doch stress.
,,Naja mit 16 ist das etwas schwierig",sagte meine Mutter.
,,Alles ist zu schwierig für den, nichtmal Freunde hat der."
Ich wollte einfach aus dem Raum gehen, auf so eine "alle-gegen-Felix"-Aktion hatte ich keine Lust.
,,Ey Schwuchtel, n Bier aus der Küche kannst du aber holen oder?"
,,Scheiß Alkoholiker",murmelte ich.
,,Felix!"
Ich hob abwehrend die Hände und verließ den Raum.
Noch bevor ich die erste Treppenstufe erreicht hatte, wurde ich am Kragen zurückgezogen.
,,Ey wie hast du mich gerade genannt?",fragte er mich.
,,Alkoholiker",wiederholte ich langsam und jede Silbe betont.
Innerlich gab ich mir schon beim aussprechen einen Schlag ins Gesicht, äußerlich musste ich auch nicht lange warten. Mit voller Kraft landete eine Faust auf meinem Gesicht, die mich rücklings auf die Treppe fielen ließ.
Ich kniff die Augen zusammen und blieb auf den Stufen sitzen. ,,Noch ein Wort von dir heute und ich verspreche dir, dass du morgen nicht nur ein blaues Auge hast. "
Ich nickte jetzt wieder eingeschüchtert.
Dass meine Mutter nicht eingegriffen hatte, konnte ich irgendwie nachvollziehen. Sie hatte irgendwann aufgehört für mich einzustehen, weil sie mit ihren eigenen Problemen zu tun hatte.

Und auch wenn es niemanden gab der auf meiner Seite war und die ganze Welt "gegen-Felix" spielte, brachte ich mich in den folgenden Stunden nicht um.
Auch wenn es vollkommen gerechtfertigt war und auch absolut das Beste für alle, saß ich einfach nur auf meinem Bett und kühlte mein Auge.
Morgen mit Sonnenbrille oder erst gar nicht zu kommen, wäre nur ein gefundenes Fressen für Sebastian und Co. Vermutlich würden sie denken ich wäre zu Feige ihnen gegenüber zu treten, was ich auch war, aber dass musste ja nicht so offensichtlich sein.
Irgendwie verspürte ich ein bisschen Hoffnung, dass der Wahnsinn mit Rewi endlich vorbei sein würde, nach den heutigen Ereignissen. Aber ganz vorstellen konnte ich es nicht.
Nicht zu begreifen, dass er mit seinen Schlägen, Kommentaren und dem Hass in seinen Augen, ein Grund für meinen innerlichen Tod war, wäre selbst für ihn zu naiv.
Er konnte doch nicht plötzlich checken das er mir weh tat und aufhören.

Das konnte nicht, nein es durfte nicht der Grund für die zwei grauenhaften Jahre sein.

Er durfte nicht unbewusst mein Leben zerstört haben.
Er musste einen Grund haben.

Einer der Gründe | RewilzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt