Immer mehr

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Ich löschte meinen und Bastis Chat.
Nicht weil ich sauer war oder mal wieder keinen Kontakt wollte, es war bloß zur Sicherheit.
Auch wenn er gesagt hatte dass die Anderen mich in Ruhe lassen würden, könnten sie ihre Meinung ändern und mir das Handy aus der Hand reißen. Wenn sie dort meinen und Rewis Chat sehen würden, würde dieser vermutlich wieder lügen und darauf hatte ich keine Lust.
Dieses ,,Keine Lust" war irgendwie zu einem Standard geworden. Dabei würde ,,Das könnte ich nicht ertragen" viel besser passen.

,.Ich verarsche den doch nur."

Nein das musste ich mir nicht antun.

Ich stieg aus dem Bus aus und ging auf das graue Gebäude zu. Luca, Ardy und Taddl waren zu meiner Verwunderung nicht mit im Bus gewesen. Entweder sie kamen zu spät, weil gestern irgendeine Party war oder ich hatte nichts vom Ausfallen der ersten Stunde gewusst. Sowas passierte häufiger, da ich nunmal nicht in der Klassengruppe war. Ich hatte mich eigentlich nie als ein Teil dieser ,,Gemeinschaft" gesehen, aber mit Basti fühlte ich mich integrierter. Als hätte ich plötzlich einen Anker in dieser Schule, dabei war er das genaue Gegenteil. Ich hatte ihn bloß in seinem Zimmer - wenn wir alleine waren.

Als ich ihn wenige Meter vor mir auf das Schulgebäude laufen sah, fiel es mir nicht schwer den Drang zu unterdrücken, zu ihm zu laufen. Hier war er wieder Rewi, der der mich unzählige Male verprügelt hatte. Also wich ich sogar absichtlich seinem Blick aus wenn er sich umdrehte, auch wenn dies mehr Anstrengung erforderte, denn er sah nunmal verdammt gut aus.

Mit der Sicherheit nicht zu früh zum Unterricht zu sein, betrat ich mit gesenktem Kopf den Klassenraum und erblickte im Augenwinkel die Anderen, die grinsend auf ihren Plätzen saßen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, doch ich schüttelte es ab. Ich hatte keinen Grund mehr dazu. Ich hatte Basti und er hatte mir versprochen, dass mir nichts passieren würde. Er log nicht. Er spielte mir nichts vor.
Ich setzte mich auf den beschrifteten Stuhl, ließ meinen Rucksack auf den Biden gleiten, zog mir die Kapuze vom Kopf und blickte auf die Tischplatte.
Er war mein Freund und der einzige Mensch der mich hier haben wollte. Immer mehr wurde ich mir darüber bewusst.
Und ja, er war noch nicht bereit es irgendwem zu sagen, aber damit konnte ich leben. Ich würde alles tun damit er bleibt und ich wusste das er nun auch für mich da war.

Ich zog die Augenbrauen zusammen als ich etwas vor mir liegen sah.
Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde bis ich erkannte was es war.

Nein.

Meine Atmung ging sofort schneller.
Mein Herz schlug wie wild.

Bitte nicht.

Mein Blick starr auf das Metallstück gerichtet.
Ich spürte die Augen aller Mitschüler auf mir, auch wenn dies vermutlich nur Einbildung war.
Mir wurde nicht nur schlecht, nein ich wollte kotzen.
Rennen.
Schreien.

Aber ich bewegte mich nicht.
Als würde die kleinste Regung etwas auslösen.
Als würde ich mit einem Fuß auf einer Landmiene stehen.
Allein Blinzeln würde mich umbringen.

Für eine kurze Zeit war ich taub und betäubt.
Kein Ton, kein Wort drang zu mir durch.

Und dann in voller Lautstärke.
Schreiend.
,,Psycho."
Die Stimme war nah, konnte und wollte sie jedoch nicht zuordnen.

Ich wusste nicht was ich tun sollte.
Mein Kopf war leer.
Dann schnellte mein Kopf zu Sebastian, der meinem Blick nicht eine Sekunde stand hielt.
Ich wollte ihn anschreien, doch er würde es nicht hören.

Mach irgendwas! Bitte!

Er wollte es nicht hören.

Er kannte mich nicht mehr.

Ich drückte mich vom Stuhl hoch und versuchte meine Beine zum Rennen zu bringen.
Vielleicht folgten sie meinen Anweisungen, vielleicht nicht.
Was genau geschah wusste ich nicht mehr, doch als ich wieder zu Bewusstsein kam befand ich mich auf dem Schulhof.

Ich kniff meine Augen zusammen.

Sie hatten mir eine Rasierklinge auf den Tisch gelegt.
Da lag eine Klinge auf meinem Platz.

Sie wussten davon.
Er hatte es ihnen verraten.

Sie wussten von meinem Selbstmordversuch.
Von meinem Aufenthalt in der Psychiatrie.

Ich war ratlos - mir fiel nichts ein.
Kein Weg führt aus dieser Hölle raus.

Wie soll ich mein Leben auf die Reihe kriegen, wenn sowas mich schon an den Rand einer Klippe treibt.

Ich wünschte mir gerade nichts mehr als diese Klippe.

Hunderte Meter in die Tiefe - unaufhaltsam fallend.

Ich wollte jetzt nicht anwesend sein.
Ich wollte nicht bei Bewusstsein sein.
Ich wollte nicht denken, sehen, hören, fühlen.
Ich wollte einfach nicht leben.

Nicht jetzt.

Bitte überspring diesen Tag.

Den nächsten.

Ich war ratlos.
Lieber würde ich nun auf dem Boden liegen, ohnmächtig geschlagen.
Meinetwegen von Sebastian.
Alles wäre besser gewesen als vor der Eingangstür zu stehen und zu warten.
Worauf auch immer.

Auf irgendeine Lösung.
Eine Tat.
Einen Menschen.
Eine Rettung.
Auf den Tod.

Warten auf den Tod, der mich aus dieser Situation befreit.
Denn ich wusste nicht was ich als nächstes tun sollte.
Keine Lösung, kein Weg, kein Mensch, keine Rettung.

Ich stand hier und er saß im Klassenraum.
Lachend über die Aktion, die seine Freunde gebracht hatten.

Lachend über meine Reaktion.
Meine Ratlosigkeit.
Meine Verzweiflung.

Wie konnte ich nur so dumm sein?

Wie konnte ich mir das antun?

Wie konnte ich mich trauen glücklich zu sein?

Es kommt immer zurück.
Und es tut immer weh.
Immer mehr.

Einer der Gründe | RewilzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt