Wie konnte mir das jetzt schon wieder passieren? Dumpf fällt mein Schädel gegen die Kopflehne des Sitzes, wo er augenblicklich von den schlenkernden Bewegungen des Busses durchgeschüttelt wird. Leider hilft diese Art von Massage nicht gegen meine penetranter werdenden Kopfschmerzen. Eine Busfahrt hätte ich ohne Probleme verkraftet, aber dieses ständige Aussteigen, Zurückfahren und Einsteigen in eine neue, vermeintlich richtige Linie, nagt an meinen Nerven. Mittlerweile ist es der dritte Anlauf den korrekten Weg zu finden und das alles nur, weil sich der Kleine nicht genau an die Haltestelle erinnern kann, ganz zu schweigen an die Verbindung.
Aus den Augenwinkeln betrachte ich den zierlichen Jungen neben mir. Seine rehbraunen Augen sind noch vom Weinen gerötet, die engelsblonden Locken stehen wirr von seinem Kopf ab und erschöpft lehnt er sich an die Fensterscheibe. Jedoch ist seine Verfassung im Vergleich zu heute Mittag, als ich ihm begegnet bin, besser geworden. Völlig aufgelöst ist er durch die Einkaufstraße gerannt und hat sich verzweifelt umgeschaut. Er wirkte unsicher, verloren und hilflos. Eine Weile habe ich ihn mit meinen Blicken verfolgt und suchte nach Personen, die auf den Kleinen reagieren, doch niemand schien sich wirklich für ihn zu interessieren. Irgendwann konnte ich es nicht länger mit ansehen. Mein Gewissen und Verantwortungsgefühl drängten mich dazu, ihm zu helfen. Kurzerhand verabschiedete ich mich von meinen Freunden, mit denen ich gerade unterwegs war und steuerte auf den wimmernden Jungen zu.
Meine Bemühungen auf ihn einzureden sind anfangs kläglich gescheitert. Kein Wort konnte ich seinen Lippen entlocken und hartnäckig schüttelte er bei jeder meiner Fragen mit dem Kopf. Erst als sein Magen knurrte und ich ihm eine Pizzaecke gekauft hatte, entspannte sich unser Verhältnis. Anscheinend konnte das Essen ihn mehr von mir überzeugen, als alle meine Sätze zusammen. Er wurde sogar gesprächiger, was noch lange nicht bedeutete, dass er viel redete. Vielmehr beantwortete er meine Fragen mit ein bis zwei Wörtern, aber es war schon mal besser als nichts. Wenigstens kenne ich jetzt seinen Namen.
Im Moment sind wir auf dem Weg zu seinem Zuhause. Allein hätte ich ihn auf gar keinen Fall zurückschicken können. Mein Gewissen würde dafür sorgen, dass ich nachts kein Auge zumachen könnte und Schuldgefühle würden mich innerlich zerreißen.
"Du, Alexandra?"
"Hm?" Die feine Stimme von Maximilian holt mich aus meinen Gedanken. Aufmerksam wende ich mich ihm zu. Er sieht so blass aus, so unendlich müde. Am liebsten würde ich ihn in meine Arme schließen und erst wieder loslassen, wenn wir sicher bei ihm vor der Tür stehen.
"Danke." Verblüfft weiten sich meine Augen, denn ich hätte nicht erwartet, dass dieser kleine Knirps sich bei mir bedankt. Er hätte jede Ausrede der Welt, es nicht tun zu müssen und ich hätte es ihm noch nicht einmal übel genommen. Wenn ich in dem zarten Alter von sieben Jahren allein durch eine Stadt hetzen müsste, könnte ich wahrscheinlich keinen klaren Gedanken fassen. Die meiste Zeit würde ich vermutlich nur flennen, doch der Kleine hat nach wenigen Augenblicken seinen Tränenfluss stoppen können. Maximilian ist stärker und klüger für sein Alter, als es äußerlich erscheint, denn sein Körperbau ist schmächtiger und zarter im Vergleich zu anderen gleichaltrigen Kindern.
"Bedank dich nicht zu früh, noch sind wir nicht da. Du darfst dich erst bedanken, wenn ich dich sicher bei deiner Familie ausgesetzt habe." Meinen neckischen Unterton kann ich nicht komplett verstecken, aber das muss ich auch gar nicht, denn Maximilians Mundwinkel ziehen sich fast unmerklich nach oben. Ein stolzes Grinsen bildet sich auf meinem Gesicht. Kein einziges Mal hat er eine heitere Regung gezeigt und dass ich ihn zum Schmunzeln bringen kann ist ein persönlicher Erfolg.
"Sag mal, warum bist du eigentlich allein unterwegs?", frage ich behutsam in die anbahnende Stille zwischen uns. Leider nicht behutsam genug, denn Max zuckt augenblicklich zusammen und blickt sich gehetzt um. Fast so, als müsste er sich überzeugen, dass kein Anderer uns hören kann. Seine Atmung beschleunigt sich und seine Finger krallen sich in sich in den Stoff seiner blauen Jeans. Verwirrt runzele ich meine Stirn. Was kann so schlimm sein, dass er angsterfüllt hin und her rutscht? Steckt vielleicht mehr hinter seiner ungeplanten Reise, als kindlicher Leichtsinn?
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Durch den Nebel - Jenseits aller Regeln
Fantasy"Gehe nicht mit Fremden mit!" Jeder kennt diese Warnung, aber niemand kann sich alle Konsequenzen bewusst machen, die bei einer Missachtung folgen. Es ist alles möglich und nichts ist sicher. So muss auch die Studentin Alexandra ins kalte Wasser spr...