Kapitel 27

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Mit einer vorsichtigen Bewegung öffne ich die Tür. Eine eingefallene Gestalt presst sich an die Wand und wimmert auf, als vereinzelte Lichtstrahlen ihre bleiche Haut treffen. Ihre roten Haare sind verfilzt und verhüllen ihr Gesicht wie ein Vorhang. Die Fesseln an ihren Händen und Füßen liegen so eng an, dass ihre Finger und Zehen schon schwarz angelaufen sind. Die Gelenke sind aufgescheuert, weshalb trotz der brüchigen Kruste blutige Rinnsale ihre Arme entlang fließen.

Die Ketten sind jeweils an zwei Stellen an der Wand befestigt. Einmal auf dem Boden und das andere Mal an der Decke. Dabei sind sie gerade so lang, dass die Hexe sich hinknien, aber nicht sitzen kann, gleichzeitig kann sie sich nicht aufrichten. Es muss unglaublich schmerzhaft sein, in dieser Position zu verharren.

Ich beiße unsicher in meine Lippe. Das Ungeziefer treibt sich auch hier herum und krabbelt über ihren abgemagerten Körper. Sie trägt nichts außer ein dreckiges und zerfetztes Hemd, weswegen kleine Eiskristalle auf ihrer Haut schimmern. Wie kann sie bei dieser Kälte überleben?

"Tristan hat mich gewarnt, dass ich Sie nicht von Ihren Fesseln befreien soll und ich vertraue ihm mehr als Ihnen." Ich schließe für einen Moment die Augen, um mich zu sammeln. "Ich werde die Ketten an Ihren Füßen und von den Wänden lösen. Bitte machen Sie mir keine Probleme. Wir möchten doch beide diese Hölle lebend verlassen. Außerdem entschuldige ich mich für mein unangemessenes Verhalten von eben. Trotzdem sollten auch Sie sich vor Augen führen, dass Ihre Wortwahl nicht angebracht war. Fräulein Bajaga, ich würde gerne neu anfangen und unsere Startschwierigkeiten beiseite legen."

"Einverstanden", stimmt die Hexe mir mit schwacher Stimme zu, "Dennoch werde ich Sie darauf hinweisen, wenn Sie sich unhöflich benehmen."

"Das kann ich nur zurückgeben", erwidere ich und ein unscheinbares Schmunzeln legt sich auf meine Lippen, als sie empört schnaubt, sich aber geschlagen gibt. Ich erhasche einen Blick auf ihr vernarbtes Gesicht. Ihre Lippen sind aufgeschlitzt, ihre Ohren sind durchlöchert und ihre Nasenspitze ist abgeschnitten worden.

Still trete ich näher an sie heran, verscheuche die Käfer und Würmer und beginne ihre Fesseln zu öffnen. Was musste diese Frau alles ertragen, seitdem sie eingesperrt ist? Ihre Verfassung ist schrecklich und es ist erstaunlich, dass sie durch die Schmerzen und die Einsamkeit nicht den Verstand verloren hat. Sie muss eine starke Persönlichkeit besitzen.

"Redet Ihr von Tristan dem Mischlingsjungen?" Ihre Frage holt mich aus meinen Gedanken und skeptisch runzele ich meine Stirn.

"Kennt Ihr ihn?"

"Dieses Balg und seine Mutter haben mir nur Probleme bereitet", schwelgt sie in Erinnerungen und ein Zucken umspielt ihre Mundwinkel. Ob sie sich ärgert oder amüsiert, kann ich nicht genau erkennen. "Wie steht Ihr zu ihm?"

Völlig unvorbereitet treffen mich ihre Wörter und fieberhaft suche ich nach der richtigen Antwort. "Ich... ich denke, dass wir Freunde sind?" Ich bin selbst nicht überzeugt von meiner Aussage. Ich kenne ihn nicht einmal wirklich, außerdem ist er ein Massenmörder und ein Idiot, der immer erst alles im Alleingang machen möchte. Er ignoriert mich die meiste Zeit, gibt mir nur komische Antworten oder neckt mich. Aber ab und zu ist er fürsorglich, aufmerksam, hilfsbereit und verantwortungsvoll.

Ich weiß nicht, wie wir zueinander stehen. Einerseits scheint er mich abgrundtief zu verachten, andererseits beginnt er sich auf mich zu verlassen und mir zu vertrauen. Mein Herz setzt zu einem Sprint an, als mich die Erkenntnis trifft. Tristan, der mächtige, angsteinflößende, kaltblütige Wolfsdrache vertraut mir, einem jämmerlichen Menschen. Sonst würde er mich nie im Leben allein in diese Hölle schicken und mich damit beauftragen, die Hexe herauszuholen.

"Verstehe." Der Hexe entweicht ein herzzerreißendes Seufzen und ich würde gerne fragen, was sie genau versteht. Mir kommt es so vor, als hadert sie mit sich selbst, ob sie weiterreden soll oder nicht. Anscheinend hat sie sich dazu entschieden, mich anzuschweigen.

Durch den Nebel - Jenseits aller RegelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt