Kapitel 32

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"Bist du bereit?"

Eduard sieht mich auffordernd an und hält mir seine Hand entgegen. Bajaga hat ein Portal beschworen, welches mich sicher zurück in meine Wohnung bringen soll. Ich musste ihr nur so genau wie möglich erklären, wie sie aussieht.

Trotzdem ist sich keiner sicher, ob mich das Portal wie bei meiner Hinreise abstößt oder nicht. Zwar verändert sich mein Körper und mein Geist, aber ich bin und bleibe ein Mensch und gleich wird es sich auch bestätigen. Hoffentlich.

Eduard soll mich begleiten und sicher durch diesen Strudel aus Magie bringen. Danach soll er so schnell wie möglich zu Tristan und Bajaga zurückkehren. Die Kinder schlafen noch und ich möchte sie nicht wecken. Es war gestern schwer genug sich zu verabschieden.

Der Spalt flackert unruhig und die unendlichen feinen Funken tanzen durch den Raum. Jedes kleine Glitzern, welches aus dem Portal sprudelt, erinnert mich an eine kleine Schneeflocke, denn sie bestehen nur aus winzigen Mustern und Schnörkeln, die ich vor knapp zwei Wochen nicht wahrnehmen konnte.

Ich war so aufgeregt und geschockt, als ich das erste Mal vor diesem Spalt stand, dabei konnte ich nur einen Bruchteil der Schönheit erkennen. Die unzähligen Formen und Farben, die sich innerhalb von Sekunden verflüchtigen, malen ein traumhaftes Bild.

Gleich werde ich wieder in dieses Nichts geschmissen, welches meinen Körper erst erhitzt, um ihn dann urplötzlich einzufrieren. Eine Gänsehaut überfällt meinen Körper, als ich an die Schmerzen und die Todesangst zurückdenke. Die Bilder von den messerscharfen Schlingen, die mich aufgeschlitzt und auch Max in ihre Falle gezogen haben, drängen sich vor mein inneres Auge. Werde ich noch einmal das Glück haben, dem Tod zu entrinnen?

Ich seufze erschöpft aus und strecke meine eiskalten Finger nach Eduards Hand aus. Eigentlich sollte ich panisch sein, weil ich genau weiß, welche Qualen mich gleich erwarten, aber ich bin einfach nur müde.

Diese Welt hat mich abgestumpft. Was sind schon die kleinen Schnittwunden im Vergleich zu dem Gefühl ertrinken zu müssen oder bei lebendigem Leib zerrissen zu werden? Die Kälte in dem Gefängnis ist schrecklicher gewesen als der Frost, der meine Haut jeden Moment überziehen wird. Die Luft in dem Portal ist rein und nicht durchtränkt mit verbranntem oder verwestem Fleisch. Egal, was gleich passiert, ich bezweifele, dass es die Leere in meinem Körper übertönen kann.

Ohne mich ein letztes Mal umzudrehen, marschiere ich auf den pulsierenden Spalt zu. Ich habe alle Tränen vergossen und alles gesagt. Es ist Zeit für mich nach Hause zu gehen, auch wenn ich lieber bleiben würde. Gestern habe ich alle Emotionen aufgebraucht, weshalb ich heute nur eine hohle Hülle bin.

Mein gleichmäßiger Herzschlag erinnert mich daran, dass ich noch lebe und ich einen funktionierenden Körper habe, aber meine Gefühle haben sich hinter einer massiven Mauer versteckt. Als müssten sie sich selbst beschützen, damit sie nicht völlig zersplittern.

Wenn man mir an meinem ersten Tag in dieser brutalen Welt erzählt hätte, dass ich freiwillig hierbleiben möchte, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Ich bin zu einer Mörderin, zu einer Einbrecherin und zu einer Diebin geworden, habe Leichen, Bestien und Gefolterte gesehen. Trotzdem stehe ich zu meinen Entscheidungen. Ich habe eingesehen, dass man manche Dinge nicht mehr ändern kann und sogar wenn ich es könnte, würde ich jedes einzelne Mal genauso handeln.

Ich schließe meine Augen, als Eduard von den Fäden umschlungen wird und in dem Portal verschwindet. Blind setze ich die letzten Schritte und die scharfen Schlingen fangen an meinen Körper zu umspielen. Dass sie mich immer tiefer in das Nichts zerren, stört mich nicht. Eduards warme Hand hält mich fest und hilft mir die letzte Distanz zu überwinden.

Durch den Nebel - Jenseits aller RegelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt