Kapitel 6

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Das kann nicht sein! Wieso ist er hier? Überfordert raufe ich mir die Haare. Die letzten Stunden habe ich verzweifelt versucht, eine sinnvolle Begründung zu finden, warum er kommen könnte, doch mir ist keine überzeugende eingefallen. Er hat keinen Grund. Das hat er mir doch klipp und klar gesagt!

„Tristan!", kreischt Lara überglücklich und springt ihm buchstäblich um den Hals. Ein ehrliches Lächeln, welches ich ihm nach gestern nicht zugetraut hätte, erstrahlt auf seinem Gesicht und lockert die bis eben hochkonzentrierte Miene. Erleichtert erwidert er ihre stürmische Umarmung, entlässt sie aber nach kurzer Zeit aus seinem Griff und stellt sie sicher auf dem Boden ab.

Max stolpert unbeholfen auf ihn zu, dabei senkt er ehrfürchtig seinen Kopf. Ihm ist die Anspannung anzusehen, aber auch seine Erleichterung. Scheinbar ringt er selbst mit seinen Gefühlen, inwieweit er sich über Tristans Auftauchen freuen darf und was das Maß an Respekt überschreiten würde.

Zu meiner Überraschung geht Tristan in die Hocke, um dem Kleinen auf Augenhöhe zu begegnen. Er flüstert ihm irgendwelche aufmunternden Worte zu, die ihn sichtlich entspannen und wuschelt ihm durch seine wirren Locken. Daraufhin entwischt Max ein kleines Kichern, welches ich vorher noch nie bei ihm gehört habe. Seine Töne sind zart, wenn nicht gar zerbrechlich, aber sie klingen wie ein Glockenspiel.

Tristan hat scheinbar ein gutes Verhältnis zu den Geschwistern, denn er wirkt wie ausgewechselt. Seine herablassende Ausstrahlung wich einer herzlichen Sicherheit, die ihn wie einen Schleier umgibt und alles in der Nähe in seinen Bann zieht. Er strahlt eine ungewöhnliche Ruhe aus, als könnte ihn niemand verletzten oder auch nur erschüttern. Nichts lässt auf die abweisende Bestie schließen, welche mir gestern begegnet ist.

Als mir bewusst wird, dass ich ihn wieder unverwandt angestarrt habe, schießt mir eine ungewollte Hitze in den Kopf. Blut rauscht in meinen Ohren und übertönt erfolgreich die Unterhaltung vor mir. Ich kann zwar erkennen, dass sich ihre Lippen bewegen, doch das war es auch. Unwohl wische ich mir den Schweiß von den Händen. Warum bin ich plötzlich so nervös? Wahrscheinlich war ich gestern so benebelt von den Ereignissen und der Erschöpfung, dass mir gar nicht bewusst war, welchem mächtigen Monster ich eigentlich begegnet bin.

Unsicher erfriere ich, traue mich nicht auf die Gruppe zu zugehen. Was mache ich hier überhaupt? Vor mir stehen Ungeheuer, trotzdem kann ich nicht einfach verschwinden und sie ihrem Schicksal überlassen. Ich habe gesehen, wie Lara als gewaltiger Wolf aussieht und mich bedroht hat. Eigentlich sollte ich schnellstmöglich das Weite suchen, aber irgendetwas hält mich davon ab.

"Und Alexandra hat uns die ganze Zeit geholfen und auch bis jetzt mit uns im Park gewartet. Ich weiß gar nicht, was wir ohne sie gemacht hätten! Sie hat dich gestern, extra wegen uns, gesucht, obwohl sie selbst schrecklich müde war. Ist das nicht unglaublich?", quasselt Lara fröhlich, als meine Ohren wieder funktionieren.

"Ja, unglaublich", unterbricht Tristan ihren Redeschwall. Aus seinem Mund hört sich diese Aussage abwertend an. Als würde ihn die Tatsache stören, dass Lara sich über meine Hilfe freut. Dennoch wird mir bei ihren Worten klar, warum ich noch hier bin. Diese Kinder haben alles verloren. Ich kann es ihnen nicht antun, jetzt auch zu verschwinden, nur weil sie anders sind. Innerhalb eines Tages bin ich zu allem geworden, was sie noch haben. Jedenfalls bis Tristan auf der Bildfläche erschienen ist.

"Wir haben gehofft, dass du uns vielleicht helfen könntest?", kleinlaut druckst Max vor sich her und schielt mit großen Hundeaugen zu ihm hoch. Dabei wirkt er genauso verschüchtert wie anfangs. Unendlich quälende Sekunden regt sich Tristan überhaupt nicht. Wie eine Mauer schirmt er alles von sich ab und es ist unmöglich zu erahnen, was hinter ihr passiert.

"Ich kann euch nicht beiden helfen. Es kann nur einer von euch mitkommen", befehlt er. Seine Muskeln zucken gefährlich unter der Kleidung und auch sein angespannter Kiefer scheint jeden Moment zu zerbersten. Sein Auftreten schreit einem praktisch entgegen, dass er unzufrieden ist.

Durch den Nebel - Jenseits aller RegelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt