Mommy! (Teil 5)

51 3 0
                                    

Einige Tage später habe ich endlich erfahren, was mit Mommy passiert ist. Oma war nicht diejenige, die es mir erzählt hat, das hat mir Seth verraten... auch wenn er nachdem er es mir anvertraut hatte von meiner lieben Oma zusammengeschrien wurde. Oma hat so getobt. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. Sie hat Seth angeschrien, was ihm denn einfalle mir so etwas zu erzählen. Und zu guter Letzt hat sie ihn sogar aus der Wohnung hinaus geworfen. Er solle jetzt nach Hause gehen, auf der Stelle, hatte sie stocksauer gemeint. Der gute Seth hatte sich das natürlich nicht zweimal sagen lassen. Er hatte sich somit also umgedreht und war, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, verschwunden. Als er sie geöffnet hatte, hatte die Tür gequietscht, dann war sie geräuschvoll ins Schloss gefallen und ich hatte schnelle Schritte im Stiegenhaus vernommen.
Oma hat mich dann in den Arm genommen und mir flüsterleise ins Ohr getuschelt, dass ich das, was Seth mir gerade eben gesagt hat, mal wieder ganz schnell vergessen soll. Aber das habe ich nicht. Konnte ich einfach nicht.
Denn es war logisch... viel logischer, als die Geschichte, die mir meine Oma über Gott und die Engel erzählt hatte. Meine liebe Mommy solle jetzt da oben im Himmel in einem Wolkenhaus wohnen und von oben über mich wachen. Die Sterne, die wir Menschen von unten oben am schwarzen Himmel sehen, sind die Lichter der Wolkenhäuser in denen die Verstorbenen hausen. So wissen wir, dass sie über uns wachen. Und scheint die Sonne oder regnet es oder ist das Wetter sowieso anders, schlafen sie und deswegen können wir auch keine Lichter oben am Himmel sehen.
Es ist durchaus etwas Schönes, was Oma mir da erzählt hat, das streite ich auch gar nicht ab... aber es ist eben nur eine Geschichte. Eine erfundene Geschichte, die Oma sich da für mich ausgedacht hat, vermutlich... dass ich nicht so traurig bin. Oma hat es bestimmt nur gut gemeint! Ganz bestimmt. Oma meint es immer gut, jedes Mal!
Seths Geschichte war aber trotzdem logischer... auch wenn sie so viel grusliger und dunkler als die von meiner lieben Oma war.
Er hat mir nämlich erzählt, dass meine liebe Mommy gesprungen ist... von der Dachterrasse des Hauses, in dem Oma ihre Wohnung hat.
Ich wollte die Stelle sehen, von der Mommy gesprungen ist und Seth wollte sie mir auch zeigen, aber dann kam Oma und hat ihn angeschrien. Auch wenn Seth gemeint hatte, dass ich ein Recht hätte dort hinaufzugehen. Aber Oma hat keine Ausnahme gemacht und hat ihn zornig aus der Wohnung geschmissen.
Ja, und jetzt stehe ich am Balkon von Oma und schaue durch die Eisenstangen hinunter auf die Straße.
Wow, ist das hoch.
Von der Dachterrasse muss es doch noch so viel höher sein!
Mommy hatte sicherlich fürchterliche Angst, als sie gesprungen ist. Aber wieso hat sie es dann überhaupt getan?
Während ich noch immer nach unten blicke, taucht in meinem Kopf ein Bild auf und plötzlich sehe ich meine Mommy. Klitschnass steht sie im strömenden Regen auf der Dachterrasse des hohen Stockhauses. Sie steht hinter dem Geländer. Hinter dem, zu dem mir Mommy immer gesagt hat, dass ich da nie, aber auch wirklich niemals drüber klettern darf. Vor ihr geht es steil und tödlich hinab in die bodenlose, schreckliche Tiefe. Mommy schaut gerade aus, dann hebt sie ihr schönes Köpfchen und blickt dem Himmel entgegen. Es regnet noch immer in Strömen. Der Himmel ist dunkel und bedrohlich.
Jetzt schaut meine Mommy gerade aus, dann höre ich eine Tür, die geräuschvoll aufgerissen wird.
„Mrs. Novak", höre ich diese tiefe Stimme, die vorhin an unserer Eingangstür war und Oma die schreckliche Nachricht überbracht hat, „ich bitte Sie, seien Sie vernünftig."
Mommy lächelt bitter. Und auf einmal erkenne ich sie kaum wieder.
„Hören Sie schon auf mit Ihren scheinheiligen Lügen", höre ich sie flüstern, „Ich weiß es besser, Officer. Wenn ich sage, dass es ein Unfall war... sie stecken mich trotzdem in den Knast, ohne darauf zu achten, was ICH dabei verliere."
Der Mann in Uniform räuspert sich. Will etwas sagen, aber er scheint den Mund nicht aufzubekommen.
Plötzlich durchreißt ein gewaltiges Donnergrollen die dunkle Wolkendecke und dann geht alles ganz schnell.
Finger lösen sich von der glatten Metallstange.
Mommy springt.
Mommy fliegt.
Ängstlich kneife ich die Augen zusammen. Ganz fest.
Als ich sie wieder öffne ist Mommy verschwunden, genauso wie der strömende, unangenehme Regen. Das schlechte Gefühl, das sich in mir breit gemacht hat, ist aber noch immer da.
Schritte, die näher kommen, lassen mich aufhorchen.
Ich drehe mich um.
Erblicke Oma.
Sie schenkt mir ein freundliches Lächeln, aber ich habe das Gefühl, dass es seit Mommys Tod seinen Glanz verloren hat.
Ich wende mich wieder ab und schaue in die Ferne.
Oma kommt auf mich zu, legt ihre rechte Hand auf meine Schulter und klopft leicht darauf.
„Das Essen ist fertig, Elliot", meint sie und fragt mich danach, ob wir später einige Plätzchen backen wollen.
Ich nicke.
Oma lächelt, dann nimmt sie ihre Hand weg, dreht sich um und geht wieder zurück in die Wohnung. Ich folge ihr.
Bleibe jedoch im Türrahmen noch einmal stehen und drehe mich um. Kleine Häuser und Straßen kann ich entdecken. Die paar Menschen, die ich erspähen kann wirken von hier oben wie Ameisen auf mich. Von der Dachterrasse aus müssen sie noch kleiner aussehen.
Schlagartig muss ich wieder an meine liebe Mommy denken.
Sie hat das Fliegen so sehr geliebt. Während ich das Auto am tollsten finde, hat meine Mommy viel lieber das Flugzeug als Reisemittel benutzt, als die Bahn, das Auto oder ein Schiff zu nehmen.
Noch immer blicke ich in die Ferne.
Für einen kurzen Moment ist ihr das gelungen, was sonst nur Flugzeuge und Vögel können. Fliegen!
Meine liebe Mommy ist zwar von einem Haus gesprungen, aber letztlich hat sie doch das gelernt, was sie schon immer können wollte... fliegen...
Ich wende den Blick ab und gehe ins Innere der Wohnung. Oma fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe und ich will sie nicht unnötig lange warten lassen.

Fifty Shades of Elliot (Band 1) #wingaward2019 #traumtaenzerawards2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt