Kapitel 5

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Ich entscheide mich dazu, nach Hause zu laufen, damit ich ein wenig den Kopf frei bekommen kann. Mit dieser Begegnung heute habe ich definitiv nicht gerechnet. Ohne böse Vorahnung wollte ich lediglich mein geliebtes Auto reparieren lassen und dann passiert so etwas. Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob ich mich über diese Begegnung freuen sollte oder nicht. Schließlich hoffe ich jeden Tag, seit dem 14. Januar vor fünf Jahren, dass genau das passiert. Und jetzt ist es passiert und ein Teil von mir möchte es wieder ungeschehen machen. Ich weiß ja selber nicht so genau, was ich erwartet habe, aber definitiv nicht ... das.

Eigentlich habe ich tief in mir immer gehofft, dass, wenn wir uns mal wiedersehen, alles so seien könnte wie es früher war. Dass es für sein plötzliches Verschwinden irgendeine nachvollziehbare Erklärung gibt, sodass ich ihm verzeihen kann und wir wieder die werden würden, die wir mal waren. Harry und Luna, die sich als Kinder das Versprechen gegeben haben, immer für den anderen da zu sein, immer befreundet zu bleiben. Für immer, hallen immer noch seine Worte in meinem Kopf nach. Dieses Für immer hat nicht so lange gehalten, wie ich es mir erhofft habe. Für immer bedeutet für mich die Ewigkeit und nicht nur ein paar Jahre, aber Harry sieht das anscheinend anders. Ich möchte einfach nicht mehr diese Trauer und Enttäuschung wegen seines gebrochenen Versprechens spüren, denn wenn ich endlich den Grund dafür kennen würde, könnte sich diese Enttäuschung vielleicht in Verständnis umwandeln.

Ich bereue die Entscheidung zu laufen auf der Stelle, als es plötzlich auf halber Strecke zu meiner Wohnung in Strömen anfängt zu regnen. Verdammt, wieso habe ich heute nur so ein Glück? Danke Gott! Liegt es daran, dass ich Mr. Bulle seinen Parkplatz geklaut habe? Oder vielleicht doch daran, dass ich seit ich ausgezogen bin, verdammt noch mal zu viel fluche? Oder vielleicht ist es auch schlicht und einfach die Tatsache, dass ich existiere? Erst verschlafe ich, verliere daraufhin 14 wertvolle Schoko-Bons, dann der Schaden an meinem Wagen, weshalb ich auf Harry treffe und jetzt auch noch das. Meine Jacke ist noch nicht einmal wasserfest und ich spüre schon jetzt diese eisige Kälte und Nässe auf meiner Haut.

Okay, Luna beruhige dich... Ich fange an zu rennen, damit ich schneller nach Hause komme und mich noch umziehen kann, bevor nachher meine Schicht im Restaurant beginnt. Als wäre diese ganze Situation nicht schon nervig genug, fährt auch noch ein silberner Mercedes direkt neben mir durch eine riesige Pfütze, sodass ich noch mal zusätzlich von oben bis unten mit Wasser bespritzt werde.

Ich bin doch schon komplett nass, du Penner!

Ich wische mir das Wasser aus dem Gesicht um besser sehen zu können und beobachte, wie der Mercedes wenige Meter vor mir zum Stehen kommt. Oh, habe ich das etwa laut gesagt?, frage ich mich verunsichert und verlangsame mein Tempo. Der kann mir doch gar nichts vorwerfen, das ist alles seine Schuld, versuche ich mir einzureden. Langsam gehe ich an dem Auto vorbei als plötzlich die Beifahrertür aufschwingt und mich somit fast erschlägt. Na Toll!

„Luna!", höre ich eine bekannte Stimme aus dem Fahrzeug rufen. Ich ducke mich und spähe verwirrt hinein.

„Brian?"

„Steig ein, ich nehme dich mit!" Obwohl ich mich eigentlich davor drücken wollte mit Brian zu sprechen, weil er immer noch eine Antwort auf seine Frage nach einem Date von mir erwartet, lass ich mir das nicht zweimal sagen und setze mich auf den Ledersitz im warmen Innenraum.

„Danke!", bedanke ich mich ehrlich bei ihm, als er den Motor startet und reibe mir meine kalten Hände.

„Ach das ist doch selbstverständlich!", winkt er ab und lächelt mich freundlich an. Eigentlich sieht er ja schon ganz gut aus, bemerke ich, als ich ihn näher von der Seite betrachte. Er hat dunkelblonde, kurze Haare, einen Dreitagebart und dunkelbraune Augen. Fast wie Zartbitterschokol...

„Luna?" Brian sieht mich erwartungsvoll an.

„Äh, ja? 'Tschuldigung, was hast du gesagt?" Verwirrt blinzele ich ihn an und sehe, dass sich ein Schmunzeln auf sein Gesicht schleicht.

„Ich habe gefragt, ob dir kalt ist!", wiederholt er sich. Oh!

„Woah, ist es kalt geworden!", bemerke ich kurz nachdem ich aus der Haustür gegangen bin - nur mit einem T-Shirt und einer Sweatjacke bekleidet.

„Wir haben Oktober, Lu, da kommt so etwas schon mal vor!", belehrt Harry mich.

„Nur, weil du so einen Stress gemacht hast, endlich loszugehen!" So früh morgens bin ich eben immer ein bisschen verplant und vergesse dann auch mal eine Jacke, wenn mir so ein Druck gemacht wird.

„Würde ich keinen Stress machen, würden wir schon wieder zu spät zum Unterricht kommen!" Da hat er natürlich recht, aber bevor ich das zugebe, sage ich besser gar nichts mehr. Ich sehe, wie Harry plötzlich seine Jacke auszieht und sie mir hinhält.

„Hier, du kannst meine anziehen!" Zögernd greife ich danach und sehe zwischen ihr und Harry hin und her.

„Aber Harry, dann ist dir doch kalt!", hinterfrage ich diese Geste besorgt.

„Nö!", ist das einzige was er dazu sagt, bevor ich mir die etwas zu große aber schön warme Jacke überziehe.

„Oh, stimmt! Ich vergaß, du hast ja eine besondere innere Wärme!" Er grinst mich breit, beinahe schon stolz an.

„Stimmt genau!"

„Ehm, ja ein wenig!", antworte ich Brian wahrheitsgemäß, bevor ich beobachte, wie er meine Sitzheizung wärmer dreht.

„Also, Luna...", fängt er an und ich befürchte schon, dass er mich jetzt nach dem Date fragt, aber stattdessen will er von mir wissen, wo er mich hinbringen soll. Wie großzügig!

„Nach Hause bitte. Ich wohne in der"

„Ja, ich weiß, wo du wohnst!" Okay, das ist jetzt mal so gar nicht gruselig...

„Tatsächlich?" Verlegen fährt er sich mit einer Hand durch seine blonden Haare.

„Äh.. Ja. Ich war letztens einmal in dem Restaurant, in dem du arbeitest und habe nach dir gesucht, da hat irgendeine Natasha mir deine Adresse gegeben..." Stimmt, da war ja was.

„Natalie!", korrigiere ich ihn.

„Mmh?" Er sieht mich verwirrt an. „Oh ja, richtig. Natalie war ihr Name." Bis wir in meiner Straße vor meiner Wohnung zum Stehen kommen herrscht eine peinliche Stille zwischen uns, in der ich die ganze Zeit hoffe, dass er nicht nach dem Date fragt.

„Also..." Ich schnalle mich langsam ab und will bereits die Tür öffnen. „Vielen Dank noch mal, das war wirklich nett von dir!"

„Luna, warte noch kurz!" Mist! Ich lasse den Türgriff wieder los.

„Hast du dir eigentlich schon eine Antwort überlegt?" Wenn man sich alleine mit ihm unterhält ist er nicht der coole Frauenheld, den er immer vor seinen Freunden in der Uni gibt. Wenn ich ihn jetzt so anschaue, scheint er mir einfach wie ein unsicherer kleiner Junge, der ein Mädchen nach einem Treffen fragt. Irgendwie ist er ja schon knuffig...

Auch wenn ich es wollte, wer würde ihm denn bitte in so einer Situation in die Augen sagen können, dass man keine Lust hat sich mit ihm zu treffen? Das wäre wirklich fies, bedenkt man, dass er mich an diesem Tag buchstäblich gerettet hat. Ich sage ihm also zu und verabschiede mich von ihm, bevor ich mich auf den Weg nach oben zu meiner Wohnung mache und noch mal darüber nachdenke, ob das wirklich eine gute Entscheidung war. Ich glaube, ich lasse das einfach auf mich zukommen und sehe dann weiter.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt