Kapitel 70 (alternativ)

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6 Monate später

Wartend sieht Dr. MacKenzie mich an. In ihrem faltigen Gesicht ist die absolute Ruhe und Geduld zu erkennen. Wie immer. Beneidenswert, wenn man bedenkt, dass sie mich nun schon seit einem halben Jahr kennt, und immer noch nicht diese Gelassenheit verloren hat. Das einzige, was sich in dieser Zeit vielleicht geändert hat, ist die Tatsache, dass in ihrem roten Haar nun noch mehr graue Strähnen zu sehen sind, als vorher. Vielleicht versteckt sie ihre Wut auf mich aber auch nur hinter einer sorgfältigen Maske. Denn zum Reden bringen kann sie mich immer noch nicht häufig. Stattdessen zupfe ich geistesabwesend an dem Saum meines Ärmels, suche nach einem Faden, den ich zur Beschäftigung ausreißen könnte. Das laute Ticken in dieser Praxis macht mich sonst noch wahnsinnig. Aber vielleicht ist es auch keine Uhr sondern eine Bombe in meinem Kopf. Das würde den dröhnenden Schmerz in meinem Schädel erklären.

„Na schön. Wie häufig denken sie noch daran, es erneut zu tun?"

Wieso nur glauben alle Menschen, dass es helfen würde ständig über das Thema zu sprechen, was einen an den Rand des Abgrunds getrieben hat? Sie sagen, reden hilft. Das glaube ich nicht. Sie sagen auch, Zeit heilt alle Wunden, doch habe ich eher das Gefühl, als würden die Wunden jeden Tag, den ich ohne ihn auf dieser Erde verbringen muss, weiter aufreißen. Es sind zu viele. Ich müsste eigentlich aus nichts anderem mehr bestehen. Ich starre wieder auf meine Handgelenke. Am Anfang habe ich diese hässlichen Narben immer verdeckt. Ich wollte nicht, dass die Menschen mir die Gebrochenheit sofort ansehen. Wie lächerlich. Ich muss nur einmal in den Spiegel gucken.

Aber würde ich es erneut tun? Ich habe mir ständig gewünscht, ich hätte längs geschnitten. Dann hätte man es nicht so einfach nähen können. Ich wollte sterben. Die Tränen meiner Eltern haben es mich nicht bereuen lassen, aber Harry hätte es nicht gewollt. Das hat Jacob mir versucht klarzumachen, als er vor all diesen Monaten hilflos vor meinem Bett im Krankenhaus stand und mich mit seinen grünen Augen so intensiv anstarrte, als würde Harry durch ihn mit mir sprechen.

„Gar nicht!", antworte ich ihr das erste Mal heute wahrheitsgemäß.

Wie als hätte sie meinen Gedankengang erraten, fragt sie mich: „Sie haben sich mit ihm getroffen, oder?"

Ich sehe ihr in ihre hellen Augen. Doch lange kann ich ihren Blick nicht halten. Harrys großer Bruder ist zum ersten Mal seit mehreren Wochen gestern wieder nach London gekommen. Er ist die einzige Person, mit der ich auch nur ansatzweise über alles reden kann. Und dafür ist er viel zu häufig weg. Kurz nach Susans Verhaftung hat er auch die letzten Verbindungen zu seinem Vater getrennt und er flüchtete sich in seine Musik. Ich habe ihn so darum beneidet, dass es etwas Anderes in seinem Leben gab als Schmerz, was ihn von der Trauer ablenken konnte. Doch ich habe es ihm so sehr gewünscht. Und er hatte überraschend schnell einen Plattenvertrag in der Tasche. Seine Songtexte berühren die Menschen, sie sind emotional, tiefgreifend und aggressiv. Oberflächlich mag man es Erfolg nennen. Aber niemand wird seinen Schmerz jemals wirklich verstehen können, niemals wirklich fühlenkönnen. Sie hören sich sein Leid nur teilnahmslos an. Und das einzige was sie vielleicht für ihn übrig haben ist Bewunderung. Aber Bewunderung ist nicht das, was er gerade braucht.

„Unsere Zeit ist um", erlöst mich zum Glück Dr. MacKenzie in diesem Moment, denn ich hätte meine Gedanken nicht laut aussprechen können. „Aber, Luna, wir müssen darüber sprechen." Mit strengen Gesichtszügen sieht sie mich an.

„Okay", lüge ich sie an, damit sie mich einfach nur aus diesem Raum entlässt.

~~~~~

Ich lege es meistens wirklich nicht drauf an, aber meine Beine scheinen mich automatisch immer in solche dunklen Gassen zu tragen. Wie, als würde ein Teil von mir darauf hoffen, in Gefahr zu raten. Aber leider habe ich alle meine Ängste in letzter Zeit auf diese Art erfolgreich besiegen können. Ich habe sie ständig provoziert, in der Hoffnung Harry würde kommen und versuchen mir meine Angst zu nehmen, wenn ich mich vor etwas fürchte. Aber er kam nie. Und irgendwann hörte ich auch auf mich zu fürchten, denn auch dieses Gefühl wurde von der Leere überschattet. Diese Leere, die mich dennoch immer wieder in diese Richtung der Stadt treibt.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt