Kapitel 52

34 9 0
                                    

Die ganze letzte Woche, seit dem Gespräch mit Louis, habe ich Harry kaum zu Gesicht bekommen. Er meinte, es gäbe zu viele Sachen zu klären, Sachen mit Zach wegen Louis' Tod, was mir wiederrum nur weitere unwohle Gedanken beschert hat. J hingegen schien die ganze Zeit nicht von meiner Seite zu weichen. Ob er mir im Restaurant ausgeholfen hat, sich neben mir in die Vorlesung gesetzt hat oder mir beim Abendessen Gesellschaft geleistet hat, er war immer da. Auch wenn Harry mir fehlt, bin ich doch froh, nicht alleine sein zu müssen, sondern mit jemandem, der genauso in dieser ganzen Sache drinsteckt, reden zu können. Ich will nicht seine Zeit so einschränken, aber er meint ständig, er könne eh nichts Weiteres tun, als auf diesen so furchtbar wichtigen Anruf zu warten. So langsam sieht man ihm den wenigen Schlaf an.

Aber jetzt bin ich das erste Mal seit geraumer Zeit wieder völlig alleine zuhause und weiß nicht, was ich machen kann, um zu helfen. Ich weiß nicht, was ich überhaupt gerade mit meiner Zeit sinnvolles anfangen kann, während jeden Augenblick wieder was Schlimmes passieren könnte, so, wie es seit Harrys Rückkehr ständig zu passieren scheint. Es ist so unglaublich nervenaufreibend nur hier zu sitzen und im Minutentakt einfach nur auf mein Handy zu schauen, ob ich irgendeine Nachricht von J oder Harry erhalten habe. Nein, ich kann nicht einfach nur nichts tun. Entschlossen springe ich von der Couch auf und eile in den Flur, um mir meine Jacke überzuziehen. Ich greife mir meine Autoschlüssel und mache mich auf den Weg nach draußen, doch erschrecke mich, als vor meiner Tür jemand mit gehobener Hand steht, den ich hier am aller wenigsten erwartet habe.

„Was willst du denn hier?", frage ich ein wenig außer Atem, mich noch von dem Schreck erholend. Brian senkt seinen gehobenen Arm und sieht mich besorgt an.

„Ist alles okay bei dir? Du siehst irgendwie nicht gut aus!"

Sieht man mir meine Müdigkeit etwa genauso sehr an?

„Mir geht's prima!", versichere ich ihm überzeugend. Meine Probleme gehen ihm nicht im Geringsten etwas an.

„Luna... können wir reden?"

Innerlich verdrehe ich die Augen aufgrund dieser plötzlichen und unerwünschten Begegnung, denn ich habe nicht das geringste Verlangen danach mit ihm zu sprechen. Um ehrlich zu sein geht es mir gerade gehörig gegen den Strich, dass er mich in meinem Vorhaben aufhalten will. Ungeduldig fange ich an auf meiner Unterlippe zu kauen.

„Mach's aber kurz!", befehle ich ihm also knapp.

„Die Sache ist die...", beginnt er langgezogen, während er sich beschämt am Hinterkopf kratzt. Hat er die Ungeduld in meiner Stimme etwa nicht rausgehört? Hätte mich meine Mutter nicht anders erzogen hätte ich ihn am liebsten jetzt sofort abgewürgt und weggeschickt. „Ich... ich kann einfach nicht aufhören an dich zu denken!", gesteht er, als würde es ihm schwer fallen so etwas zu sagen.

Oh, hast du etwa auch an mich gedacht, als dir während unseres Dates auf der Toilette einer geblasen wurde?

„Ich weiß auch nicht, du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, du bist irgendwie anders!"

Anders als diese operierte Schlampe? Darauf kannst du wetten! Seine Worte berühren mich so wenig, ich erschrecke mich schon fast vor mir selber. Ich habe nicht gedacht, dass ich mal innerlich so kalt sein könnte.

„Luna, können wir vielleicht reingehen?" Nervös verlagert er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich kann nicht"

„Nein!", unterbreche ich ihn jedoch mit fester Stimme. „Sag, was du zu sagen hast, ich habe noch zu tun!" Wow, ich höre mich fast so abweisend an wie Harry.

„Okay, dann sag ich es dir jetzt einfach: Ich habe mich in dich verliebt!" Stumm blicke ich ihm in seine braunen Augen und atme genervt aus. Weiß er überhaupt was Liebe ist? Meine fehlende Erwiderung scheint ihn dazu zu animieren, weiter zu reden. „Weißt du, was ich mir morgens wünsche, wenn mich die Strahlen der aufgehenden Sonne an der Nase kitzeln? Dass es deine weichen blonden Haare sind, die mich so sanft wecken." Ich kann aus seinem Blick nicht lesen, ob er es ernst meint. Aber sein ganzes Verhalten macht diese Worte einfach zu unglaubwürdig.

„Jedes Mal, wenn ich dein Parfüm irgendwo rieche, drehe ich mich zu der fremden Frau um, in der Hoffnung, du wärst es. Jedes Mal, suche ich den ganzen Hörsaal ab, in der Hoffnung, dich in der Menge irgendwo zu entdecken. Das ist das einzige, was mich in den Vorlesungen beschäftigt." Nun, ich hatte in der letzten Zeit nicht so häufig den Kopf für die Uni.

„Weißt du, was mir aufgefallen ist, seit ich dich kennengelernt habe? Dass alle Menschen um mich herum triste, leblose Augen haben. Es fehlt das prächtige, bunte Farbenspiel in ihren Augen." Schwachsinn, ich habe blaue Augen. Jetzt fängt er völlig an durchzudrehen.

„Immer, wenn die Sonne in dein wunderschönes Gesicht fällt und diesen Regenbogenfarbenen Ringum deine Pupille zum Vorschein bringt..."

Er plappert weiter vor sich hin, doch lenkt sich meine Aufmerksamkeit plötzlich auf diese beiden Wörter, die ich bisher nur ein einziges Mal von einer einzigen Person gehört habe. Doch Harry hatte im Museum behauptet, er hätte von einem anderen Mädchen gesprochen, das er mal gekannt hat: Er möchte nie wieder etwas Anderes riechen, ihr Duft nach Rosen ist wie Sauerstoff für ihn, ihre Worte sind wie die aller schönste Sinfonie in seinen Ohren. Er möchte nie wieder etwas Anderes sehen als den kleinen Regenbogenfarbenen Ring um ihre Pupille und nie wieder etwas Anderes spüren als ihre nach Himbeeren schmeckenden Lippen... Das waren seine Worte gewesen, als er das Gemälde des unbekannten Künstlers beschrieben hatte. Aber er kann nicht von mir gesprochen haben, Harry und ich haben uns nie geküsst... Meine Gedanken werden von weiteren sich nähernden Schritten unterbrochen, und ich bin dieser Person jetzt schon dankbar, dass sie mich davor rettet, weiter mit Brian zu sprechen. Ich sehe einen glücklichen Jacob auf uns zu kommen, der sich grinsend neben Brian stellt.

„Was machst du denn schon wieder hier?", frage ich ihn verdutzt.

„Wer ist denn jetzt dieser Kerl?", höre ich noch einen gereizten Brian von der Seite fragen, doch J und ich ignorieren ihn.

„Ich habe es geschafft, Luna!", sein Grinsen wird immer breiter und ich halte mir ungläubig die Hand vor den Mund, der sich zu einem breiten Lachen bildet. „Wir können ihn endlich da rausholen!"

Weil ich gerade keinen anderen Weg sehe, meine Euphorie irgendwie zum Ausdruck zu bringen, falle ich J wie instinktgeleitet um den Hals, welcher mich kurz hochhebt und um 360° dreht, während ich in sein freudiges Lachen einstimme. Als er mich wieder runterlässt, kann ich meine plötzlichen Glücksgefühle einfach nicht mehr aufhalten. Die Freudentränen fangen an, wie wild sich einen Weg über meine Wangen zu bahnen, so ein großer Stein fällt mir gerade vom Herzen. Zach kommt endlich hinter Gittern. Harry kann endlich frei sein, er muss keinen Leuten mehr wehtun, er kann ein normales Leben führen. Oder zumindest ein halbwegs ungefährliches Leben, denn ein weiteres Problem haben wir immer noch. Aber bevor ich mir über die weitere Zukunft Sorgen mache, freue ich mich erstmal, dass wir wenigstens einescheinbar unmögliche Hürde überwunden haben. J schaut mich immer noch grinsend an, und stupst mir liebevoll gegen mein Kinn.

„Hey, das ist doch kein Grund zu weinen, kleine Luna. Wir sollten das feiern!" Fürsorglich nimmt er mich in den Arm, bevor eine gedämpfte Stimme wieder zu mir durchdringt.

„Luna? Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?", fragt Brian mich verwirrt und gleichzeitig gekränkt. Ich löse mich wieder von J und wische mir meine Tränen aus dem Gesicht.

„Brian, ich...", setze ich zu einer Erklärung an. Aber nein, ich habe nichts dazu zu sagen. Entschuldigend sehe ich ihn an: „Es tut mir leid!"

Er konnte nicht wissen, dass es schon immer einen anderen gegeben hat. Ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. Aber es wird niemals jemanden geben, mit dem ich eine so starke Bindung haben könnte, wie mit ihm. Nie jemanden, der die Vergangenheit, die Erinnerungen, die ich mit ihm habe, irgendwie aufholen könnte. Es ist passiert, es kann nie jemand in der Zeit zurückreisen und mein gesamtes Leben beeinflussen, wie er es getan hat. Ich darf ihn auf gar keinen Fall verlieren, weil es niemals jemandem gelingen würde, mir das zu geben, was Harry mir geben kann. Mir wird klar, dass es keinen Menschen auf dieser Welt gibt, den ich genauso sehr lieben könnte, wie ihn. Resigniert schüttelt Brian den Kopf und lässt uns ohne ein weiteres Wort stehen.


Schon wieder nur ein kurzes Kapitel, deshalb kommt gleich direkt nochmal ein - diesmal längeres und actionreicheres - Kapitel hinterher. Viel Spaß beim Lesen:)

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt