Kapitel 59

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Zum ersten Mal seit langer Zeit kehrt Ruhe in meine Gedanken ein als ich das warme Wasser ungehindert auf meinen ausgelaugten Körper prasseln lasse. Ich verdränge den Gedanken an das Geschehen in der Lagerhalle gestern, an welches Harry mit jeder schmerzenden Bewegung seines Körpers erinnert werden muss, obwohl er es nicht zeigt und konzentriere mich darauf, was wir bereits alles geschafft haben. Zach ist weg und wir haben den ersten Hinweis für Harrys Unschuld gefunden, den so viele Menschen einfach ignoriert haben. Jetzt müssen wir es nur noch der ganzen Welt beweisen und den Verantwortlichen vor Augen führen, wie sie durch ihre Engstirnigkeit das Leben eines unschuldigen dreizehnjährigen Jungen vor fünf Jahren für immer zerstört haben.

Das unterschwellige leichte Brennen auf meinen Handflächen und Unterarmen bemerke ich erst jetzt. Doch ich versuche die Schürfwunden, die mir unser missglücktes Kunststück an der Außenwand des Krankenhauses beschert hat, zu ignorieren; dieser kleine physische Schmerz erscheint mir zu belanglos.

Wenige Minuten später stehe ich wieder angezogen vor dem kleinen Badezimmerspiegel und betrachte neugierig meine mir so leblos erscheinenden blauen Augen, doch ich kann kein Farbenspiel in ihnen erkennen. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder ab. Keine Ahnung, was Harry und Brian da lächerliches von sich gegeben haben.

Mit freudigen Gedanken an mein Bett, trete ich aus der Badezimmertür in den Flur hinaus und schrecke kurz zusammen, als Harry direkt vor mir steht. Den Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt, als hätte er auf mich gewartet. Wir sehen uns sekundenlang nur an, bis ich bemerke, dass er nicht das Bedürfnis danach hat ein Wort zu sagen, also lehne auch ich mich mit meinem Rücken an die Badezimmertür, die unter meinem Gewicht knarzend zugeht. Dann ist es so still, dass das einzige, was ich zu hören vermag, Harrys schwerer Atem und mein schneller Herzschlag ist, während ich ihn eingehend betrachte. Auch er hat sich mittlerweile den Dreck vom Körper gewaschen, seine noch nassen Locken tropfen auf seine nackten Schultern. Mir bleibt beinahe der Atem weg, als ich seinen mir mittlerweile doch eigentlich bekannten freien Oberkörper sehe.

Himmel, das sieht noch schlimmer aus als gestern. Die Blutergüsse über seinen Rippen haben eine unnatürlich dunkle Farbe angenommen und ich erkenne zahlreiche Schnitte und aufgeplatzte Hautstellen, die mir vorher noch nicht aufgefallen sind. Ich habe das dringende Bedürfnis irgendetwas zu sagen und ihn nicht nur so anzustarren, doch ich habe nicht die Kraft dazu wegzuschauen. Ich sehe schon an der flatternden Bewegung seines Schmetterlings auf seiner Brust, dass er etwas sagen will, doch ich komme ihm zuvor.

„Willst du heute Nacht alleine sein?", frage ich ihn leise, hoffnungsvoll, ängstlich. Kurz erinnere ich mich wieder an früher. Wir haben kaum eine freie Sekunde ohne einander verbracht. Doch diesem Harry, der vor mir steht, wurde das Bedürfnis nach menschlicher Nähe über Jahre ausgetrieben. Das hat er mir in den letzten Wochen immer und immer wieder gezeigt. Meistens.

Aber ich spüre die Gänsehaut, die seine raue Stimme mir stets beschert schon bevor ich das Gesagte realisiere.

„Nein."

Ein Flattern breitet sich in meiner Magengegend aus, wie das des Schmetterlings auf seiner Brust und ich bringe ein kleines Lächeln zustande, bevor ich mich von der Tür in meinem Rücken abstoße und an ihm vorbei in die Richtung meines alten Zimmers laufe. An seinen Schritten höre ich, wie er mir folgt. Wortlos, nicht so recht wissend, was ich sagen soll, krabbele ich in mein Bett unter die Decke und folge Harry mit meinen Augen, als er es mir gleichtut.

„Das wird jetzt aber nicht zur Gewohnheit!", neckt er mich in Anspielung auf die Nächte, die wir schon zusammen verbracht haben. Doch ich schenke seinen abwehrenden Worten keine Beachtung, sondern betrachte nur sein wunderschönes Gesicht von der Seite, während er gedankenverloren nach oben an die Decke starrt. Gott, wie kann man nur so unglaublich schön sein? Die perfekte Form seiner pinken Lippen, die gerade Nase, seine smaragdgrünen Augen, die von dem hereinfallenden Mondlicht angestrahlt werden, selbst die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die ihn immer so unglaublich ernst aussehen lässt. Alles an ihm ist einfach perfekt. Doch dann fällt mein Blick wieder auf seinen geschundenen Körper und ich muss schlucken, als ich bemerke, dass auch das ein Teil von ihm ist und die Narben, die er hat und die ihm bleiben, auch für immer zu ihm gehören werden. Wie bizarr, dass so etwas Schreckliches ihn kein bisschen entstellen kann.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt