Kapitel 24

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Ratlos stehe ich vor einem der letzten Gemälde der Kunstabteilung, nachdem wir erfolgreich alle anderen Bilder schon genau analysiert und interpretiert haben. Wahrscheinlich braucht kein Besucher dieses Museums so ungewöhnlich lange für nur eine Abteilung, doch für mich verging die Zeit wie im Flug. Zu jedem Werk ist mir immer irgendwas eingefallen, aber zu diesem namenlosen Bild?

Über den anonymen Maler ist nichts bekannt, noch nicht einmal die Zeit in der das Gemälde entstanden ist, also habe ich auch keine Anhaltspunkte in der Geschichte des Künstlers. Diesen Gesichtsausdruck, den der Mann in diesem Gemälde aufgesetzt hat... Ich kann ihn absolut nicht deuten. Und auch die offensichtlichen Dinge helfen mir hierbei nicht sonderlich weiter. Der Fokus liegt in diesem Werk auf dem kunstvoll vergoldeten Fenster aus dem der einfältig gekleidete Mann nach draußen sieht. Sein intensiver Blick liegt dabei auf einer Frau, die nur in Rückenansicht zu sehen ist. Ihre braunen Haare sind zu einer Hochsteckfrisur zusammen gebunden, sodass man einen guten Blick auf das pastellblaue Kleid erhält, welches aus der Zeit des Barocks zu stammen scheint. Auch Harry steht nur sprachlos neben mir und starrt mit einem ebenso undurchdringbaren Ausdruck in den Augen auf das Bild, wie der Mann in dem Gemälde die Frau ansieht.

„Und, was sagst du?", frage ich ihn und hoffe auf einen Erklärungsansatz, der mir hilft diesen Ausdruck zu verstehen.

„Das ist doch offensichtlich!", höre ich Harrys Stimme mich überraschen.

„Offensichtlich? Für mich ist daran überhaupt nichts offensichtlich! Ich kann nicht sagen, ob der Mann auf dem Bild der Frau auflauern möchte, sie umbringen möchte, ihr hinterherspioniert, sie liebt, an ihr wegen irgendetwas Rache üben möchte, oder sie einfach nur ansieht, weil sie schön ist. Wahrscheinlich schaut er rein zufällig aus dem Fenster!"

„Nein, schau her!", er geht einen Schritt näher an das Werk des unbekannten Künstlers und zeigt mit seinem Finger auf den Mann und seine Umgebung.

„Betrachte die Farbgebung um die beiden gezeigten Personen. Im Vordergrund wo der Mann steht ist alles dunkel gehalten, was vermuten lässt, dass er nicht die Reinheit in Person ist. Ein Kontrast bildet allein der Raum in dem er steht, das Fenster vor allem. Es ist vergoldet, daneben stehen griechische Skulpturen, weshalb dieses Gebäude einer wohlhabenden Familie gehören muss. Vielleicht sogar adelig. Jetzt sieh dir das Mädchen an. Hier wurde hauptsächlich mit hellen Pastelltönen gearbeitet, was sie zu einem Gegensatz macht."

„So weit war ich auch bereits!", unterbreche ich ihn ungeduldig. „Das habe ich doch auch schon alles erkannt, aber man kann nicht erkennen, wie die beiden zueinanderstehen." Harry wendet sich von dem Gemälde ab und kommt wieder auf mich zu, um mir genau in die Augen sehen zu können, während er weiterspricht.

„Erkennst du nicht die Sehnsucht in seinen Augen, Luna?", fragt er mich leise. Ich will mich eigentlich von ihm abwenden, um noch einmal das Gemälde und die Augen des Mannes zu betrachten, doch sind es in diesem Augenblick Harrys Augen, die mich ob ihrem intensiven Blick bewegungsunfähig machen. Ich verstehe die Reaktion meines Körpers nicht, in dem sich plötzlich eine starke Hitze breitmacht und mein Herz fängt wie wild an zu pochen. Ich spreche doch nur mit Harry! Dem Harry, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne, also wieso reagiere ich so eigenartig?

„Spürst du nicht beinahe schon selber sein Verlangen nach ihr? Dieses Verlangen ist verboten, denn er ist nicht von ihrem Stand. Doch diese Emotion ist nicht die einzige in seinem Blick. Er hält sich zurück, da er weiß, dass er keinen guten Einfluss auf sie hat, hasst sich selber für das, was er getan hat, ist eifersüchtig auf alle anderen, die jemals mit ihr Kontakt hatten, möchte am liebsten alle Menschen umbringen, die sich ihnen in den Weg stellen könnten und hat Angst, dass sie eine so große Wirkung auf ihn hat, dass er nicht mehr Herr über seine Gefühle und sein Verhalten ist. Er hat Angst, dass er alles für sie tun würde, doch weiß er, dass er schon längst nicht mehr anders kann. Er hat vor allem Angst, weil sie sich auf ihn einlassen möchte und ihn nicht abweist. Ihr Kopf ist leicht zur Seite geneigt, will ihn über die Schulter hinweg ansehen. Ihre Körperhaltung zeigt, dass sie weiß, dass er sie ansieht und sie genießt es. Er hat Angst, dass sie wegen ihm zu Schaden kommt." Sein Blick liegt immer noch auf mir und immer noch bin ich nicht dazu in der Lage mich von ihm abzuwenden.

„Er sehnt sich nach ihrer sanften Stimme, würde am liebsten nie wieder etwas Anderes ansehen, als ihr Gesicht, vor allem, wenn der Wind mit ihren Haaren spielt und diese um ihre wunderschöne Gestalt tanzen. Er möchte nie wieder etwas Anderes riechen, ihr Duft nach Rosen ist wie Sauerstoff für ihn, ihre Worte sind wie die aller schönste Sinfonie in seinen Ohren. Er möchte nie wieder etwas Anderes sehen als den kleinen Regenbogenfarbenen Ring um ihre Pupille und nie wieder etwas Anderes spüren als ihre nach Himbeeren schmeckenden Lippen..."

In diesem Moment verfluche ich diese grelle Deckenbeleuchtung. So rot wie ich sein müsste, ist es beinahe unmöglich, dass Harry dies nicht bemerkt. So laut wie mein Herz pocht, würde es mich nicht wundern, wenn er es hören würde. Ich weiß, dass er diese Worte nicht zu mir gesagt hat, aber in seiner Stimme lagen so viele Emotionen, so viel Glaubwürdigkeit, dass ich die Reaktionen meines Körpers einfach nicht mehr kontrollieren konnte. Die ganzen unsichtbaren Details, die er genannt hat, kamen ihm so leicht über die Lippen, sodass man das Gefühl bekommen hat, als hätte er dieses Gemälde gemalt, oder als wäre er der Mann am Fenster.

„Wie kamst du auf den Regenbogenfarbenen Ring?", frage ich unüberlegt nach. Es interessiert mich einfach und außerdem ist mir in diesem Moment nichts Anderes eingefallen, was ich auf seine Worte hätte antworten können. Er räuspert sich und wendet sich dann nach einer gefühlten Ewigkeit von mir ab.

„Ich kannte mal ein Mädchen mit solchen Augen!" Oh... Irgendwie hätte ich es mir denken können, dass Harry in den letzten fünf Jahren auch Kontakt zu anderen Mädchen gehabt hat, aber dennoch spüre ich ein leichtes Ziehen in der Nähe meines Brustkorbs. Wieso interessiert mich das überhaupt so sehr? Ich habe Harry zwar schon immer gemocht, aber niemals auf diese Art und Weise, oder doch? Nein, damals bestimmt noch nicht, aber wieso denke ich jetzt daran, obwohl er mir doch so fremd geworden ist. Aber dieses Mädchen... es muss ihm viel bedeutet haben. Weil ich nicht weiß was ich dazu noch sagen soll, nicke ich nur stumm mit dem Kopf.

„Ich glaube ich sollte jetzt gehen... i...ich muss noch lernen!", sage ich immer noch durch den Wind und mache mich auf den Weg zurück zum Ausgang. Ohne darauf zu achten, ob Harry mir folgt, stürme ich auf die Tür zu und bleibe erschöpft draußen stehen. Die kalte Winterluft kommt mir gerade recht und ich hoffe, dass sie mein Gesicht möglichst schnell abkühlt, damit die anderen Menschen mich nicht mit einer lebenden Tomate verwechseln. Ich höre hinter mir die Tür dumpf ins Schloss fallen und erkenne Harry in mein Blickfeld treten.

„Alles okay bei dir?"

„Alles okay bei dir?", stelle ich ihm eine Gegenfrage, um von mir abzulenken. „Seit wann interessiert es dich, wie es mir geht? Du bist doch sonst eher darauf bedacht mich auf Abstand zu halten!", fahre ich ihn vorwurfsvoll an und verfluche mich im selben Augenblick selber dafür, so zickig reagiert zu haben. Ich will einfach, dass er mir endlich mal sein Verhalten erklärt, er macht mich so wuschig. Ich muss fast ständig an ihn denken und versuche mir einen Reim darauf zu machen, wieso er in einem Moment den Anschein macht, als würde er mich hassen und es in einem anderem wieder so wirkt, als hätte sich nie etwas zwischen uns geändert.

„Du hast Recht, es interessiert mich auch nicht!", reißt er mich dann wieder aus meinen Gedanken und ich sehe ihn desinteressiert in meine Richtung blicken, bevor er die wenigen Stufen runter läuft und ich noch höre wie er sagt: „Man sieht sich!"

Verdammt, Luna, du hast schon wieder alles zerstört!, verfluche ich mich selber dafür. Er wollte doch nur wissen, ob alles okay bei mir ist. Und das war so weit ich mich erinnern kann das aller erste Mal, dass er sich scheinbar Sorgen um mich gemacht hat. Aber was mache ich? Ich ruiniere diesen Moment!

Aber weißt du was, Harry? Nein, es ist absolut nicht alles okay! Du tauchst wieder unangekündigt in meinem Leben auf, hast dich um 180 Grad verändert, willst mir nicht sagen, was mit dir passiert ist, verhältst dich mir gegenüber wie ein Arschloch, aber sagst gleichzeitig manchmal Dinge, die mich an dein früheres Ich erinnern, und dann sprichst du auch noch, während du mir in die Augen siehst über ein so emotionales Thema und klingst dabei so, als wäre kein einziges Wort davon gelogen, obwohl du dir nur irgendeine unbedeutende Geschichte zu einem unbedeutenden Gemälde ausdenken solltest! Und dann fragst du mich, ob alles okay ist?

Ich würde mir am liebsten die Haare raufen. Wir hatten wieder so schöne Augenblicke heute erlebt und ich habe ihn vertrieben. Diesmal war ich diejenige, die diesen Moment zerstört hat.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt