Kapitel 15

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Fassungslos halte ich mir die Hand vor den Mund und schaue voller Entsetzen dabei zu, wie Harry über das Geländer klettert.

„Wonach sieht es denn bitte schön aus?", fragt er mich und schwingt das andere Bein über das Glas, sodass er nun auf der anderen Seite steht.

„Harry, komm sofort zurück! Bist du wahnsinnig?"

Immer noch komplett von der Rolle lehne ich mich nach vorne und erhasche erneut einen Blick nach unten auf die beleuchtete Straße, doch weiche augenblicklich wieder zurück. „Um Gottes Willen, willst du dich umbringen? Was ist, wenn du da runterfällst?" Unverzüglich fangen meine Hände an zu schwitzen, als ich beobachte wie Harry sich auf dieser schmalen Steinkante versucht hinzusetzen und man dabei wieder sofort merkt, dass er auf Grund des Alkohols Koordinationsschwierigkeiten hat. Heiliger Bimbam, bitte lieber Gott, lass das alles gut ausgehen!

„Dann werde ich wahrscheinlich sterben... Ich werde aufplatzen wie eine Katze in der Mikrowelle. Mein Schädel wird zertrümmert sein und mein Gesicht so dermaßen eingedrückt, dass man mich nicht mehr identifizieren kann. Ich weiß zwar nicht, ob die Höhe dafür reicht, aber wenn meine Gedärme aufplatzen, wette ich mit dir, dass es aussehen wird, wie Nudeln Bolognese! Und wenn..." Ich halte mir schnell die Ohren zu und fange an irgendwelche Geräusche von mir zu geben, damit ich nicht mehr hören muss, was er sonst noch alles erzählt. Als ich sehe, dass er aufgehört hat zu sprechen, lasse ich meine Hände wieder sinken.

„Wie kannst du nur Witze darüber machen? Ist dir nicht klar, dass du dich gerade ernsthaft in Lebensgefahr begibst?" Ich verstehe nicht, wie ihm das alles überhaupt nichts ausmacht. Auch, wenn er keine Höhenangst hat, ist das, was er gerade tut einfach nur leichtsinnig.

„Wer bist du, meine Mutter?"

„Nein... Ich...", gebe ich zögernd von mir.

„Dann höre auch auf dich so zu benehmen, ich habe die letzten fünf Jahre auch prima ohne dich überlebt!" Autsch. Das tat weh. Er klingt so, als wäre er froh, dass ich die letzten Jahre kein Teil seines Lebens gewesen bin, dass er auf mich verzichten konnte und es ihm tatsächlich gut ging.

Harry nimmt einen weiteren Schluck von der Bierflasche und lehnt sich dann mit dem Rücken an das Geländer, lässt seine Beine nach unten in den Abgrund baumeln. Unschlüssig ob ich ihn besser alleine lassen sollte, entscheide ich mich letztlich doch dazu noch eine Weile zu bleiben. Ich setzte mich ebenfalls an das Geländer, sodass wir versetzt mit den Rücken zueinander sitzen. Durch einen Spalt zwischen den spiegelnden Glasplatten, die das Geländer bilden, sehe ich Harry von der Seite an, der wieder verträumt seinen Blick nach oben gerichtet hat. Unsere früheren Ichs hätten sich diese Situation gewiss nicht entgehen lassen, denn dieser klare Nachthimmel eignet sich perfekt dazu, Sternenbilder-Raten zu spielen. Ohne mir große Hoffnungen zu machen, schaue ich nach oben und sage leise: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist... groß!"

Harry und ich haben früher unser eigenes Spiel entwickelt. Zuerst haben wir immer versucht, die wirklichen Sternenbilder zu finden, doch wurde dies irgendwann zu langweilig. Vor allem, weil wir uns darüber einig waren, dass keine der Bezeichnungen so richtig zu den Sternenbildern passte. So war zum Beispiel der Stier nichts weiter als ein verkrüppeltes H und der kleine Löwe eine schiefe Linie, die zwischen mehreren Sternen gezogen wurde. Also versuchten wir eigene Bilder zu finden, und der andere musste anhand von Fragen herausfinden was man für ein Bild vor Augen hatt.

„Ist es... lebendig?", höre ich dann Harrys Stimme, als ich schon fest davon ausgegangen bin, dass er mir nicht antworten wird. Überrascht drehe ich wieder meinen Kopf zu ihm und sehe, wie auch er mich neugierig ansieht und auf eine Antwort wartet. Also Stimmungsschwankungen hat er auf jeden Fall, ich weiß nur nicht, ob das am Alkohol liegt, oder es jetzt ein Teil seiner Persönlichkeit ist, von jetzt auf gleich seine Laune zu ändern. Auch heute bei der Arbeit war er plötzlich interessiert an meinen Freizeitaktivitäten, obwohl er mir vorher dringend aus dem Weg gehen wollte. Und gerade eben hat er mich wieder beleidigt und nun will er mit mir unser Spiel spielen.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt