Kapitel 67

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Ich versuche Luft zu holen, doch mit jedem Atemzug fühlt es sich an, als würden meine Organe zerreißen. Mein Kopf scheint explodieren zu wollen, und ungeachtet der höllischen Schmerzen in jeder meiner Gliedmaßen, fühle ich mich wie gelähmt. Ruckartig öffne ich die Augen. Das einzige, was ich erkenne, ist kalter, harter Asphalt und unzählige Trümmer.

Nach Atem ringend versuche ich mich aufzurichten, aber in dem Moment entweicht mir ein schmerzhafter Schrei. Meine Rippen fühlen sich an wie zertrümmert. Ich starre auf meine Hände. Unzählige kleine Schnitte, Glassplitter, Blut. Ich verdränge das intensive Brennen und schaue mich panisch um. Das vollkommen zerbeulte Auto ist gegen die Leitplanke gerast, die Frontscheibe ist nicht mehr vorhanden, wir wurden mit voller Wucht in den Gegenverkehr geschleudert.

Wir.

Harry.

Tränen bilden sich in meinen Augen, bevor ich ihn erblicken kann. Panische, übermächtige Angst lähmt meinen ganzen Körper, als ich ihn mehrere Meter von mir entfernt liegen sehe. Völlig reglos. Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Bitte, lass ihn nicht tot sein.

Ich schaffe es nicht aufzustehen, also versuche ich ungeachtet der Schmerzen in meinem linken Handgelenk mich auf meine Unterarme gestützt in seine Richtung zu schleppen. Ich ignoriere die Splitter auf dem Boden, die sich bei jeder Bewegung in meinen Körper bohren.

Es ist zu früh. Es waren nur ein paar wenige, schöne Momente.

Meine Tränen verschleiern mir die Sicht, es sieht aus, als würde er sich mit jeder Bewegung weiter von mir entfernen.

Er hat so lange durchgehalten. Sein Leben fängt doch gerade erst wieder an.

Ich schaffe es, ihn zu fokussieren. Endlich erkenne ich seine braunen Locken. Zitternd versuche ich sein blutiges Gesicht zu ignorieren. Er kann nicht tot sein.

Bitte noch nicht. Was ist mit Für immer?Was ist mit dem Rest unseres Lebens?

Nach unzähligen weiteren schmerzhaften Bewegungen komme ich endlich bei ihm an. Ich traue mich nicht ihn näher anzusehen, sondern taste stattdessen den Boden nach seiner Hand ab, bis ich sie zu greifen bekomme. Sein Puls ist schwach, aber er ist da. Keuchend vor Anstrengung drehe ich mich auf den Rücken, seine Hand halte ich fest umklammert, sein Puls ist das einzige, was mich gerade am Leben hält.

Gequälte Laute verlassen meinen Mund. Wir sind mitten auf der Autobahn, wieso sind hier keine Menschen? Ich taste nach meinem Telefon, aber kann es nicht finden.

„Wieso hilft uns denn keiner?", rufe ich, aber meine Stimme ist so leise, ich kann sie selber nicht hören. Verzweifelte Hilflosigkeit macht sich in mir breit. Ich will mich umsehen, Panik steigt in mir auf, doch mein Körper gehorcht mir nicht, er bewegt sich nicht. Bis ich endlich schwarze Lackschuhe in mein Blickfeld neben Harry treten sehe.

Bitte, rufen sie den Krankenwagen, will ich schreien.

Aber dann verschwimmt meine Sicht. Meine Schmerzen verschwinden, unsere Chance auf Rettung verschwindet und Harry verschwindet.

~~~~~

„Haben sie keine Angst, wir bringen sie in ein Krankenhaus", höre ich eine freundliche Frauenstimme mich beruhigen. Ich will sofort wieder einschlafen, dieser Fremden vertrauen und erst wieder aufwachen, wenn die Welt wieder in Ordnung ist. Trotzdem zwinge ich mich meine Augen zu öffnen. Mein Untergrund bebt, mehrere Personen schieben mich eilig in eine Richtung. Ich reiße mir die Sauerstoffmaske vom Gesicht.

„Harry", ist das einzige Wort, das ich zustande bringen kann.

„Wir kümmern uns um ihren Freund!" Die Frau mit der ruhigen Stimme, will mir die Maske wieder auf das Gesicht drücken, doch ich drehe meinen Kopf vorher zur Seite und erhasche einen flüchtigen Blick auf einen blutenden Körper auf einer weißen Liege, die hektisch von mehreren Leuten in einen Krankenwagen geschoben wird. Das beißend helle Licht des Innenraums zwingt mich dazu, meine Augen wieder zu schließen.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt