Kapitel 26

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Konzentriert ziehe ich mit dem Bleistift die dünnen Linien nach und versuche mich an das genaue Muster des Schmetterlings zu erinnern, der mir seit gestern Abend die ganze Zeit durch den Kopf schwirrt.

Ein Glück habe ich mich zurückhalten können ihn nicht auf die Klausur vorhin zu kritzeln, als ich schneller als erwartet mit den Aufgaben fertig war. Also habe ich sie mit einem guten Gefühl als eine der ersten abgegeben, und sitze nun in der Bibliothek und warte auf Brian, der mir mit einem Zeichen zu verstehen gegeben hat, dass er noch mit mir sprechen möchte. Diese kurze freie Zeit kam mir gerade recht, um meine Gedanken an dieses schwarze Kunstwerk endlich auf Papier zu bringen.

Vielleicht liegt es daran, dass mein Papier leider nicht Harrys Oberkörper ist, aber dieser Schmetterling sieht an ihm so viel lebendiger aus. Ich kaue unzufrieden auf dem Ende meines Bleistifts rum und schaue mit zusammengezogenen Augenbrauen auf das Papier vor mir.

„Oh, das sieht wirklich schön aus!", unterbricht Brian plötzlich meine Selbstzweifel und ich drehe meinen Kopf in seine Richtung, als er sich auf einen Stuhl neben mir fallen lässt. „Wie kommst du auf einen Schmetterling?"

Ich glaube du willst die ehrliche Antwort auf diese Frage nicht hören, denke ich insgeheim und wundere mich im gleichen Moment über diese Feststellung. Hätte Brian denn überhaupt einen Grund eifersüchtig auf Harry zu sein? Vor ein paar Tagen hätte ich auf diese Frage noch mit einem eindeutigen Nein geantwortet, aber seit unserem Treffen im Museum?

Vielleicht ist es nur ein vorübergehendes Hirngespinst, welches in meinem Kopf rumgeistert und dafür sorgt, dass ich an fast nichts Anderes denken kann. Und dabei denke ich definitiv auf andere Art und Weise an ihn, als früher. Immer wenn ich mir vorstelle, wie er mich mit seinen durchdringenden grünen Augen ansieht, oder wie er mit seiner tiefen rauen Stimme zu mir spricht, fängt mein Herz schneller an zu schlagen und meine Knie werden weich. Ich hoffe, das ist nur eine vorübergehende Phase, denn ehrlich gesagt, machen mir diese Gefühle für ihn ziemliche Angst.

„Keine Ahnung, ich fand dieses Motiv einfach schön!", lüge ich Brian also an, der keinen Anschein macht, als würde er mir nicht glauben. Ich beobachte, wie er meinen Skizzenblock zu sich zieht und sich meine Zeichnung näher ansieht.

„Wow, hast du das irgendwo abgezeichnet? Das ist wirklich detaillierte Arbeit!"

„N...Nein", setzte ich an, „ich habe ihn irgendwo mal gesehen und ich hab das meiste wohl behalten!" Er schiebt mir meinen Block wieder zu und ich verstaue ihn mit meinen Stiften lose in meiner Tasche.

„Hmm", brummt er. „Ich war noch nie besonders talentiert in Bleistiftzeichnungen!"

„Ich bin sicher, du bist in den anderen Bereichen dafür umso talentierter!", versuche ich ihn aufzumuntern. „Aber jetzt sag schon, wieso wolltest du mit mir sprechen?" Ein Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht während er meine rechte Hand in seine Hände nimmt und mir mit seinem Daumen über den Handrücken streicht.

„Ich weiß, dass du nicht so gerne auf Partys gehst und dass auch die letzte ein wenig unglücklich geendet hat, wofür ich mich übrigens noch einmal entschuldigen möchte. Aber... Ich habe morgen Geburtstag und ich habe einen Club gemietet, wo ich mit meinen Freunden reinfeiern möchte und mich würde es wirklich freuen, wenn du kommen würdest!" Noch nicht mal die Tatsache, dass ich keine Partys mag kann mich in diesem Moment davon abhalten Brian zuzusagen, weil der erste Gedanke der mir dabei in den Sinn kommt, der ist, dass es eine gute Möglichkeit ist, um mich von Harry abzulenken, der mich immer noch um den Verstand bringt.

„Ich würde sehr gerne kommen!", sage ich ihm also zu und auch ich muss lächeln als ich sehe, wie seine Augen freudig zu glänzen anfangen.

~~~~~

„Hey, Natalie, hast du was von Eustachius gehört?", erkundige ich mich nach Harry, als ich wieder daran denken muss, dass ich seit gestern Nacht kein einziges Wort mehr von ihm gehört habe und ich nicht leugnen kann, dass mir ein wenig flau im Magen ist.

„Eustachius? Nein, wieso?", verwirrt geht sie an mir vorbei in die Küche um das dreckige Geschirr abzustellen.

„Na ja, meine Schicht ist seit fünf Minuten um, und ich treffe mich gleich wieder mit Brian, also kann ich dir nicht so lange aushelfen!", überlege ich mir eine Notlüge. Ihr zu erzählen, wieso ich eigentlich wissen will, wo er ist, würde viel zu lang dauern und auch keinen Sinn ergeben.

„Luna! Sieh dich doch mal um! Ich komme schon ein paar Minuten alleine klar, so voll ist es heute nicht! Und außerdem kommt er doch häufiger mal zu spät, also wieso bist du so ungeduldig? Jetzt geh schon, Brian wartet bestimmt schon auf dich!", fordert sie mich wieder Augenbrauen wackelnd auf, woraufhin ich nur die Augen verdrehen kann. Ich schlendere zurück in den Flur zur Garderobe und bin gerade dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen, da ich nicht länger auf ihn warten kann um sicher zu gehen, dass es ihm gut geht, als die Hintertür mit einem Schwung aufgeht und zu meiner großen Erleichterung Harry das Restaurant betritt. Doch die Erleichterung weicht so schnell wie sie gekommen ist der Wut als ich mich jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm aufbaue.

„Wo warst du?", will ich vorwurfsvoll von ihm wissen.

„Was? Ich bin gerade sechs Minuten zu spät, krieg dich wieder ein!" Er spricht wieder in diesem genervten Ton mit mir und sieht mich so desinteressiert an, wie in den ersten Tagen seit wir uns wieder getroffen haben.

„Das meine Ich doch gar nicht! Weißt du eigentlich was für große Sorgen ich mir gemacht habe?" Immer noch scheint er nicht besonders interessiert an einem Gespräch mit mir zu sein.

„Und das interessiert mich, weil?", fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen und sieht abschätzig auf mich herab. Wieso ist er jetzt schon wieder so? Sollte er nicht wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zeigen, dafür, dass ich ihm gestern geholfen habe?

„Weil du vielleicht gestern noch eine riesengroße Glasscherbe in deinem Rücken stecken hattest, viel Blut verloren hast, nicht zum Arzt gegangen bist und trotzdem so dumm warst in deinem Zustand einfach abzuhauen und sonst irgendwas zu machen." Ich beobachte wie er ohne den Anschein zu machen, als hätte er Schwierigkeiten dabei, seine Jacke mühelos auszieht und sich die Schürze um seine Hüften bindet.

„Ich lebe doch noch, also wo ist das Problem?"

„Wo das Problem ist?", frage ich ihn empört. „Das Problem ist, dass du ein verdammtes Arschloch bist, Harry! Du hättest mir wenigstens ein Lebenszeichen von dir schicken können!"

„Okay, ich schicke dir das nächste Mal meine Brieftaube Nancy!"

„Hör auf mit deinen blöden Witzen, ich meine es ernst! Du hast mich nur ausgenutzt und mich angelogen obwohl ich dir nur helfen wollte! Ich habe dir den Arsch gerettet und du bist noch nicht mal in der Lage dazu wenigstens Danke zu sagen!" Jetzt grinst er mich amüsiert an, als er einen Schritt auf mich zu geht.

„Ach so? Ich wusste gar nicht, dass ich ohne deine Hilfe gestorben wäre! Ist ja nicht so, als hätte ich die letzten Jahre auch ohne dich überstanden!" Das tat weh.

„Ach Harry, weißt du was? Mir doch egal! Von mir aus, kannst du das nächste Mal auf der Straße verbluten!" Ich wundere mich über mich selber, dass ich so unglaublich aggressiv reagiere, aber ich kann einfach nicht glauben, dass er sich schon wieder so verhält. Ich dränge mich an ihm vorbei und schnappe mir meine Jacke. Als ich meine Hand gerade auf die Türklinke gelegt habe, lässt mich Harrys raue Stimme innehalten.

„Danke!" Ein einziges Wort. Ein Wort, bei dem ich definitiv nicht erwartet hätte es aus seinem Mund zu hören. Und doch ist meine Wut auf ihn fast wieder verflogen. Er hat sich immer noch zu mir umgedreht und mustert mich wieder mit diesem undurchdringbaren Blick.

„Weißt du, ich hatte einfach nur Angst um dich! Also bitte tu mir den Gefallen und mach das nie wieder!"

Ich weiß nicht ob sein stummer Blick ein Versprechen sein soll, oder ob er mir einfach nur nicht antwortet, weil er es mir nicht versprechen kann. Weil es nicht so aussieht, als würde er noch irgendwas dazu sagen wollen, drücke ich die Klinke runter und trete in die kalte Finsternis nach draußen.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt