Kapitel 25

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Hätte ich gewusst, was für Auswirkungen unser kleiner Streit vor ein paar Tagen auf sein Verhalten mir gegenüber hat, hätte ich mir meine vorlaute zickige Antwort sicher zweimal überlegt. War er die Tage vor unserem zufälligen Treffen wieder „einigermaßen" erträglich mir gegenüber, so ist er nun wieder so kalt. Zwar ignoriert er mich nicht schon wieder vollständig, doch verhält er sich trotzdem sehr abweisend. Bis auf die nötigsten Gespräche, spricht er kein Wort mit mir und würdigt mich auch keines überflüssigen Blickes, während er mir spätestens seit dem Museumsbesuch gar nicht mehr aus dem Kopf geht.

Na schön, wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich, seit er in dieser Werkstatt unter dem Auto hergerollt ist und mir dabei beinahe über die Füße gefahren ist, ständig an ihn denken. Und das müsste Menschen mit einer auch nur minder ausgeprägten Beobachtungsgabe ziemlich schnell auffallen, so wie ich ihn bei der Arbeit die ganze Zeit beobachte, während er so tut als wäre ich nichts weiter als eine unwichtige Arbeitskollegin. Egal wie lange oder wie oft ich mir auch den Kopf über Harry und sein Verhalten zerbreche, ich komme kein Stück weiter.

Und dann war da auch noch dieser Moment im Museum... War es wirklich das erste Mal, dass ich solche Gefühle in mir habe hochkommen spüren? Oder habe ich es unterbewusst schon früher bemerkt, dass eine unheimliche Anziehung von ihm ausgeht, die ich trotz der großen Angst vor ihm und der Dunkelheit, die ihn umgibt, deutlich spüren kann?

Da ich zum gefühlt hundertsten Mal über die gleiche Stelle lese, aber nicht im Geringsten verstehe, was Dickens mit diesem unfassbar langen Satz ausdrücken möchte, weil meine lauten Gedanken mich definitiv daran hindern mich zu konzentrieren, schlage ich seufzend das Buch zu und schwinge mich von meiner Couch bevor ich die Lavendelduftkerzen auf dem kleinen Tischchen daneben auspuste und ins Badezimmer schlendere. Mit wenig Motivation greife ich mir meine Zahnbürste und beginne meine Zähne zu putzen während ich mein Spiegelbild betrachte.

Ich sehe viel zu fertig aus, bemerke ich als ich meine zerzausten, zu einem Dutt zusammen gebundenen blonden Haare und die tiefen Augenringe betrachte, die mich noch blasser aussehen lassen, als ich sowieso schon bin. Die Uni, das viele Lernen und die Arbeit machen mir sichtbar zu schaffen und die ständig wirren Gedanken, für die Harry sorgt, und die mir schon so manche Stunden kostbaren Schlaf geraubt haben, machen es auch nicht unbedingt besser.

Ein Knarzen der Balkontür unterbricht mich in meinem Tun, sodass ich die Zahnbürste kurz mit Wasser abspüle, um sie danach in den dafür vorgesehenen Behälter zurück zu stecken. Ich muss dringend den Vermieter noch mal anrufen, denke ich als ich aus dem Badezimmer trete, er muss diese verdammte lockere Tür reparieren, die ständig zu klappern und zu knarzen anfängt, sobald nur der leichteste Wind weht. Doch meine Vermutung stellt sich als ein großer Irrtum heraus, als ich sehe, dass das Knarzen durch eine Person verursacht wird, die gerade etwas unbeholfen durch die Balkontür meine Wohnung betritt. Bevor ich auch nur eine Sekunde dafür Zeit habe, um in Panik auszubrechen, kann ich die leicht schwankende Person als Harry identifizieren. Hat er wieder getrunken?

„Harry, was machst du hier?", frage ich ihn sichtbar verwirrt. Was will er von mir, und wieso benutzt er nicht wie jeder normale Mensch das Treppenhaus, statt die Feuerleiter bis zu meinem Balkon hochzuklettern?

„Du musst mir helfen, Luna!", fordert er in einem Ton, der keine Widerworte zu dulden scheint.

„Wobei könnte ich dir schon helfen?", wundere ich mich und knipse gerade das Licht im Wohnzimmer an, da mich diese dämmrige Beleuchtung bei einer normalen Unterhaltung zu sehr stört. Doch sobald das Licht auf meinen ungebetenen Gast fällt, wünsche ich mir bereits es niemals angemacht zu haben.

„Harry, was ist passiert?", entweichen mir die entsetzten Worte und ich gehe instinktiv auf ihn zu, um sein Gesicht zu betrachten, dass wieder so verletzt aussieht, wie auf der Party, auf der ich mit Brian war. Wieder ist seine Lippe aufgeplatzt, es läuft ihm ein wenig Blut aus der Nase und an seiner linken Wange ist ein kleiner Schnitt zu erkennen, aus welchem ebenfalls Blut bis zu seinem Kieferknochen gelaufen ist.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt