Epilog (alternativ)

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Mit dem Arm streichele ich über ihre zarte Haut, atme den Duft ihrer weichen Haare ein, die mir an der Wange kitzeln und schließe für keinen einzigen Moment die Augen – noch nicht einmal, um zu blinzeln. Luna hat ihren Kopf auf meiner Brust abgelegt.

Um deinen Herzschlag zu überprüfen, hat sie mir erklärt. Damit dein Herz nicht schon wieder aufhört zu schlagen.

Genau aus diesem Grund lasse ich sie auch seit Stunden nicht mehr aus den Augen.

Als ich vor vier Monaten aus dem Koma aufgewacht bin, haben sie mir gesagt, sie hätte den Unfall nicht überlebt. Doch ich wusste sofort, dass es eine Lüge war. Wäre es die Wahrheit gewesen, hätte mein Körper schon längst aufgegeben und ich wäre nicht mehr aufgewacht.

Und wären meine Hände nicht an das verfluchte gleiche Bett wie vor fast drei Jahren gefesselt worden, wäre ich nicht erst so viele Monate später aus dem Fenster gesprungen.

„Harry?", fragt sie mich leise und holt mich aus der Vergangenheit zurück zu ihr.

„Hmm?"

Sie richtet sich ein wenig auf, um mir ins Gesicht schauen zu können. Mit ihrer verletzten Hand fängt sie wieder an kleine Kreise auf meine Brust zu zeichnen. „Lass uns von hier verschwinden."

Ihr hellen blonden Haare fallen ihr in das schmale Gesicht. Unter ihren Augen haben sich dunkle Ringe gebildet und ihre Wangenknochen stehen mehr hervor, als ich es gewohnt war. Wir müssen beide von hier weg.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen greife ich nach ihrer Hand auf meinem Oberkörper und führe sie an meinen Mund. Sanft küsse ich ihre Narbe am Handgelenk, auch wenn sie dort keinen körperlichen Schmerz mehr fühlen kann, den ich lindern könnte.

Als ich ihre verletzte, blutende Hand versorgt habe und die Narben an ihren Handgelenken entdeckt habe, hätte ich sie am liebsten angeschrien. Doch die Wahrheit ist, ich habe mir in den letzten Monaten häufig genug selber gewünscht, genau das tun zu können, als Iwanow mich an schlechten Tagen beinahe davon überzeugt hatte, dass sie tot ist. Wäre ich nicht so bewegungsunfähig gemacht worden, wäre ich dazu gezwungen gewesen, auf ihre Beerdigung zu gehen...

Ich schiebe den Gedanken beiseite. Ich werde sie nie wieder loslassen, dann muss keiner von uns jemals wieder an das Vergangene denken.

Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und drücke ihr einen leichten Kuss auf ihre zarten Lippen. So lange habe ich diese Art Körperkontakt gemieden, seit mich alle Menschen vor fast sechs Jahren davon überzeugen wollten, was für ein Monster ich bin. Doch bei ihr war das noch nie ein Problem, sie hat es schon immer besser gewusst.

Und nachdem ich sie unter Tränen endlich davon überzeugen konnte, dass ich nicht nur eines ihrer Hirngespinste war, konnten wir nicht mehr die Finger voneinander lassen. Um uns selber davon zu überzeugen, dass der andere echt ist.

„Ich würde nichts auf dieser Welt lieber tun", antworte ich ihr endlich.

~~~~~

Ohne weitere kostbare Zeit zu verschwenden, sind wir direkt am frühen Morgen zum Flughafen gefahren. Minutenlang warte ich vor der Schlange vor dem Last-Minute-Flugschalter und versuche ihre blonden Haare nicht aus den Augen zu verlieren.

Schmerzhaft verziehe ich das Gesicht, als ich, ohne es bemerkt zu haben, mein verletztes Bein zu lange belastet habe. Es ist nicht gebrochen, ich weiß nur zu gut wie sich dieser spezielle Schmerz anfühlt, aber dennoch erinnert er mich bei jedem Schritt daran, dass es nach dem angeblichen offenen Bruch nach dem Autounfall nicht mehr so belastbar scheint wie früher. Nach dem Sprung aus dem ersten Stock der Klinik habe ich die Schmerzen aufgrund des Adrenalins zum Glück nicht gespürt, doch es hätte mir auch zum Verhängnis werden können. Verdammt, das war noch nicht einmal der höchste Sprung den ich hinter mir hatte, ich musste doch schon häufiger vor Leuten davonlaufen.

Aber das Schicksal war nun mal noch nie auf meiner Seite gewesen, wenn es um sie ging. Es schien mir immer Steine in den Weg legen zu wollen. Hatte ich diese überwunden, tat sich unerwartet ein Loch vor mir im Boden auf. Hatte ich aus diesem wieder herausklettern können, wurde ich von einer Flutwelle wieder an den Anfang gespült. Ich könnte ewig so weitermachen.

Doch jetzt, in diesem Moment, bin ich einfach zu froh, dass diesmal nicht das Schicksal gesiegt hatte. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Glück, Zufall oder vielleicht ist dort oben doch jemand, der es mir vergönnt, mit ihr zusammen sein zu können. Aber was es auch gewesen ist, jetzt, wo ich sie wieder grinsend mit zwei Flugtickets auf mich zukommen sehe, spüre ich nicht nur, wie viel Glück wir gehabt haben, dass wir noch am Leben sind – dass wir noch zusammen sind – sondern auch, wie schnell dieser kurze Moment der Glückseligkeit wieder vorbei sein könnte.

Es war schon immer so. Das Versprechen, das wir uns vor all diesen Jahren des Grauens gegeben haben, existiert nur zwischen uns beiden. Alle anderen Menschen dieser Erde akzeptieren es nicht. Sie wollen diese Verbindung mit allen Mitteln trennen. Doch noch einmal lasse ich es nicht zu.

Ich realisiere, wie Luna mich abwartend ansieht, als hätte sie mich etwas gefragt, doch darauf achte ich in diesem Moment nicht. Ich schließe sie fest in meine Arme, so fest, als würden wir eins werden, sodass ich sie nie wieder loslassen muss. Und ich gebe mir selber das Versprechen, dies auch nie wieder zu tun. Doch ich spreche es nicht laut aus, denn ich möchte sie nicht enttäuschen, sollte ich schon wieder nicht dazu in der Lage sein, es zu halten.

„H...Harry!", presst sie unter Atemnot hervor. „Du erdrückst mich!" Ich lasse sie wieder los. „Ist alles in Ordnung bei dir?", fragt sie mich mit besorgtem Blick. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und schließe für einen Moment meine Augen.

„Es ist alles in Ordnung!", antworte ich dann und meine diese Worte das erste Mal seit über fünfeinhalb Jahren tatsächlich ernst.

„Also, wo geht es hin?", frage ich sie neugierig, doch wende ich meinen Blick nicht von ihr ab, als sie mir die beiden Flugtickets zeigt, sondern betrachte nur weiter ihr zartes Gesicht um ihr genau in ihre wunderschönen, ozeanblauen Augen sehen zu können, in denen ich immer fast ertrinke, wenn ich sie ansehe.

Und heute versuche ich mich nicht wieder an die Oberfläche zu kämpfen, wie in den letzten Monaten vor dem Unfall, als ich sie von mir stoßen wollte, um sie zu beschützen, nein.

Heute lasse ich es zu.

Die Sterne sind gegen Uns | H. S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt