Zurück auf dem Hof versuchte ich meinen Vater und Grams ausfindig zu machen.
Ich lief durch den Stall und bildete mir ein die Stimme meines Vaters aus einer der Pferdeboxen heraus zu hören.
„Hast du mal wieder etwas von ihm gehört?"
„Hin und wieder kommt er mich noch besuchen, lange nicht mehr so oft wie früher, aber euer Umzug hat auch ihn damals sehr mitgenommen."
Die Stimme meiner Grams klang schwach, doch ich erkannte sie sofort und wusste dass sie über ihn sprachen.
Ich blieb stehen und hielt dem braunen Pferd meine Hand hin welches seinen Kopf aus der Box heraus streckte.
In der Hoffnung noch etwas informatives aus dem Gespräch heraus hören zu können versuchte ich zu lauschen, konnte die Beiden aber nicht mehr verstehen.
Genüsslich ließ sich das Pferd seine Nüstern von mir massieren und schnaubte zufrieden.
„Du hattest schon immer einen besseren Draht zu den Viechern als zu uns Menschen!"
In einer geblümten Schürze, mit gelben Gummistiefeln, einem Roten Band um das dicke graue Haar und einer Mistgabel in der Hand stand meine Grams vor mir und breitete ihre Arme nach mir aus.
Die Sehnsucht schien mich zu überfahren wie ein LKW, lächelnd dennoch mit Tränen in den Augen rannte ich auf sie zu und fiel ihr in die Arme.
Für eine Frau Mitte Siebzig hatte sie sich jung gehalten und ihre drahtigen, dennoch muskulösen arme drückten mich fester als ich es in Erinnerung hatte.
„Grams!"
Ich war das reinste Nervenfrack, ich wusste nicht was ich fühlen sollte doch das was ich fühlte waren offensichtlich sämtliche Emotionen auf einmal.
„Scchht.. Alles gut mein Liebes!"
Beruhigend strich sie mir über mein langes, gelocktes, rotes Haar wie früher und mit dieser Geste versetzte sie mich mindestens fünf Jahre in die Vergangenheit und in Zeiten in denen ich wegen einem Aufgeschlagenem Knie geweint hatte.
Heute würde ich es nicht mehr wagen wegen einer Schramme im Knie auch nur eine Träne zu vergießen.
Jetzt da ich erfahren musste, dass es schlimmere Dinge im Leben gab als ein kleiner Kratzer oder ähnliches.„Ich hatte schon befürchtet, du würdest dich garnicht auf mich freuen!"
Grams versuchte das wie einen Scherz klingen zu lassen, doch ich wusste, dass ein Hauch Wahrheit in ihrer Stimme mit schwang.„Red kein Unsinn! Auf dich habe ich mich am meisten gefreut!"
Skeptisch streckte sie mich auf Armeslänge von sich und beäugte mich unglaubwürdig.„Lass uns einfach so tun als würde ich dir glauben, aber jetzt erst mal ab in die Küche, ich habe euch extra den Apfelkuchen gebacken den du früher so sehr geliebt hast."
„Ich bin mir sicher dass sich das bis heute nicht geändert hatte
Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen, Grams machte mit Abstand den besten Apfelkuchen, leider meist nur zu besonderen Anlässen aber genau aus diesem Grund war er etwas besonderes.Ich konnte den süßen Duft des Apfels gemixt mit Zimt und Zucker beinahe schon riechen und freute mich auf die weiche Teigmasse zwischen meinen Zähnen als sie Dad und mich voraus in ihre Kleine Küche schob in deren Mitte auf der Kochinsel bereits der angekündigte Kuchen platziert und mit einem kleinen Strauß frischer Blumen von den Büschen vor dem Haus daneben dekoriert war.
Auch wenn es mir noch so schlecht ging und ich miserabel gelaunt war, ein Stück von Grams Kuchen konnte so ziemlich jede Stimmung aufhellen.
„Smilla Liebes, könntest du vier Teller aus dem Schrank holen und auf den Tisch stellen
Die Frage, wo sie die Teller aufbewahrte verdrängte ich und suchte systematisch die Regale durch, viel mehr jedoch beschäftigte mich die Frage:„Warum vier Teller?"
Ich zähle nur drei Personen, Dad, Grams und mich?Sofort entfachte ein kleiner Funke Hoffnung bei der Vorstellung, dass sie ihn doch noch eingeladen hatte, um mir keine falschen Hoffnungen zu machen sollte ich einfach direkt nachfragen doch Grams unterbrach meine verwirrenden Gedanken.
„Offensichtlich warst du schon zu lange weg, wenn du nicht einmal noch weißt wo wir das Geschirr stehen haben."Ihr sanftes Lächeln reichte bis unter die faltigen Augen und man konnte ihr ansehen, wie das Leben sie gezeichnet hatte.
Sie reichte mir vier Teller und legte gleich noch das Besteck dazu.„Warum eigentlich vier Gedecke?"
„Warum denn nicht?"
Sie löste die Schlaue ihrer Schürze und tauschte die geblümte gegen eine weiß-blau gestreifte ehe sie den Kuchen auf den Esstisch stellte und anschnitt.
Typisch für sie antwortete sie auf meiner Frage mit einer Gegenfrage, dummer weiße hatte ich diese Angewohnheit von ihr vererbt bekommen, doch wenn man sich selbst in der Konversation verwickelt war, fand ich das ziemlich anstrengend.
Gerade als sie auf alle vier Teller ein Stück Kuchen verteilt hatte, klingelte es an der alten Glocke vor der Haustüre um unseren Gast anzukündigen.„Kannst du schnell aufmachen Smilla?"
Meinte Grams und sofort wurden meine Knie weich wie Pudding, was wäre wenn er doch noch kommen würde?Wie früher schielte ich durch die verschwommenen Gläser der Haustüre und rechnete fest damit dass Caleb dort stehen würde doch mein kleiner Funke Hoffnung erlosch, als ich die roten, dicken Backen von Mr. Nethers erblickte.
Der alte Stammtischfreund meiner Grams hatte noch immer die gleichen prallen Backen, einzig und allein sein Bauch hatte an Volumen zugenommen und der Reißverschluss seiner Regenjacke drohte beinahe aufzuplatzen.
„Mr. Nethers! Kommen Sie rein!"„Na sieh man einer an! Die kleine Smilla ist erwachsen geworden."
Typisch, als wäre ich dennoch ein kleines Kind, kniff er in meine Backe und schob sich an mir vorbei in das Haus.
Ich sah noch einmal nach Draußen um sicher zu gehen dass nicht noch jemand dort stand, doch niemand war da.
Mit gesenktem Kopf ging ich hinterher in das Haus.
Die Enttäuschung war größer als ich mir hätte eingestehen wollen, aber was hatte ich mir auch dabei gedacht?
Etwa dass er alles für mich stehen und liegen lassen würde und mich mit offenen armen in Empfang zu nehmen?Ehrlich gesagt, ja!
Dabei durfte ich nicht einmal ansatzweise etwas von ihm erwarten, nicht nach unserem Umzug in einer Nacht- und Nebelaktion.
Dennoch hätten wir früher alles für den anderen getan, aber das war bevor ich diesen Ort verlassen musste und ihn im Laufe der letzten vier Jahre einfach nur vergessen wollte.„Ich glaube sie ist gerade ganz wo anders."
Zwei dicke Finger schnipsten vor meinem offenen Auge und holten mich zurück in die Gegenwart.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass bereits alle an dem Tisch Platz genommen hatten, nur ich stand wie hypnotisiert vor meinem Stuhl ehe Mr. Nethers mich aus meiner Trance geholt hatte.
Ich setzte mich dazu und verlor mich im Genuss des Apfelkuchens.Automatisch katapultierte der Geschmack mich zurück in meine Kindheit und an Tage, an denen einfach alles schief laufen wollte.
Ich erinnerte mich an einen Tag, an dem ich meiner Grams beim Ausmisten der Stelle helfen wollte, allerdings bin ich beim schieben der Schubkarre gestolpert und mit dem Gesicht voraus in die eingesammelten Pferdeäpfel gefallen.
Nachdem Caleb und meine Grams mich einige Sekunden ausgelacht hatten, beschlossen sie dennoch zu helfen mich von dem Mist zu befreien, ich ging duschen und als kleine Entschädigung bekam jeder von uns ein Stück vom leckeren Apfelkuchen.„Das sind die einzigen Äpfel in die du mit dem Gesicht voraus eintauchen solltest!"
Hatte er mich damals aufgezogen.
Lächelnd dachte ich an den Tag zurück und schob mir ein weiteres Stück Kuchen in den Mund.
Es wurde noch ein lustiger Nachmittag, doch die Müdigkeit siegte und ich konnte kaum die Hand vom Mund nehmen ohne erneut in einem tiefen Gähnen zu versinken.
Mein Dad und ich holten das restliche Gepäck aus dem Auto und schleppten es die alte Holztreppe hoch in den ersten Stock.
Ich stieß die Türe zu meinem alten Kinderzimmer auf und bis auf das größere Bett mit einer frisch bezogenen Bettwäsche und den leer stehenden Schränken sah alles aus wie an dem Tag als ich die Türe zu diesem Zimmer das letzte mal hinter mir geschlossen hatte.
Mein Herz wurde abgeschnürt und es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder normal atmen konnte.
Das letzte mal als ich dieses Zimmer betrat war ich glücklich, ich hatte eine andere Zukunft, hatte andere Träume und andere Perspektiven.
Doch nun war alles anders und ich hätte nie gedacht jemals wieder hier stehen zu müssen.
Stattdessen schleppte ich meine Koffer an und bezog das Zimmer, als hätte ich nie zuvor darin gelebt.
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SPIRIT
Teen FictionMit der leidenschaftlichen Liebe ist es wie mit Gespenstern: Alle reden davon, aber keiner hat sie gesehen. (François VI. Herzog de La Rochefoucauld Zitat) ___________________________________________ Einen „Neuanfang" haben sie es genannt, doch wora...