14. Die Halbe Wahrheit

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Noire wusste nicht, wie lange sie schon so gelegen hatten, als Tiffany die Stille durchbrach.
,,Es ist Fressenszeit. Alpha wird uns gleich sagen was ..."
Sie ließ den Satz unbeendet aber alle wussten was sie meinte.
Vorsichtig stand Tiffany auf und Maroni und Noire folgten ihr. Noire konnte nicht in Worte fassen, wie sehr sie das gerade berührt hatte.
,,Danke.", murmelte sie, da sie nicht wusste was sie sonst sagen könnte. Doch Tiffany und Maroni schienen sie verstanden zu haben, denn sie wedelten mit den Schwänzen als sie in die Haupthöhle kamen und auf die Lichtung hinausliefen.
Dort hatten sich schon viele Wölfe versammelt und Alpha sprang von ihrer Höhle auf den Sommerfelsen.
Gerade als sich die drei Freunde am Rande des Rudels versammelt hatten, erhob Noires Mutter die Stimme: ,,Dieser Tag war zwar erfolgreich, die Beute für diese Jahreszeit immer noch gut und die neuen Schüler haben den Wald gesehen, doch er wurde vom Sturz meines Gefährten überschattet."
Sie machte eine Pause, in der Noire sich fragte was sie dem Rudel erzählen würde.
Ich weiß nicht, was sie dem Rudel erzählen wird... Aber eigentlich muss sie ihnen alles erzählen, sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, was mit ihrem Rudelgefährten passiert ist!
,,Flame ist, wie ihr wisst, im Heilerbau. Er wird es auf jeden Fall überleben. Sein Atem ist stabil und es geht ihm schon viel besser seit dem Mittag."
Erleichtertes Ausatmen von fast allen auf der Lichtung.
,,Er hat drei Verletzungen; eine an der Schulter, eine kleine an der Stirn und ein Hinterbein ist gebrochen. Alles wird wieder verheilen und Flame wird wieder ganz gesund."
Was? Ganz gesund?! Er wird nie wieder richtig laufen können! Das nennst du ganz gesund?!
Wütend schaute Noire ihre Mutter an und versuchte ihren Blick aufzufangen.
Dann schaute sie sich auf der Lichtung um. Alle Wölfe schienen erleichtert und wieder fröhlich zu sein, bis auf ... Snowdrop.
Auch er versuchte Alphas Blick auf sich zu ziehen, dann traf sich sein Blick mit Noires.
Sie schaute ihn fragend an worauf er mit den Schultern zuckte.
Er weiß also auch nichts... Warum erzählt Mutter nur die halbe Wahrheit? Vertraut sie ihrem Rudel etwa nicht? Oder will sie es nur schützen?
Maroni und Tiffany schien aufgefallen zu sein, dass etwas nicht stimmte.
,,Was ist los? Ist dir schlecht?", fragte Maroni.
,,Nein... Ich sage es euch später.", antwortete Noire abwesend.
Die beiden schienen zwar nicht überzeugt, sagten aber nichts mehr.
Plötzlich fragte Dagger von der anderen Seite der Lichtung: ,,Wer teilt morgen dann die Jagdpatrouillen ein? Flame kann es ja schlecht machen..."
Knapp antwortete Alpha: ,,Tude wird das übernehmen, er ist nach Flame der beste Jäger."
Sie sah Tude in die Augen und er nickte. Auch Dagger wirkte zufrieden und setzte sich wieder.
Heute trugen nur Tude und Alpha die Beute aus der Höhle, daher dauerte es länger.
Erst jetzt bemerkte Noire, wie hungrig sie war. Ihr Magen knurrte lautstark als ihr der Duft der köstlichen Beute in die Nase stieg.
Es war ihre erste Mahlzeit, bei der sie nicht vor dem Rudel etwas bekamen, also wurden sie noch etwas zurückgedrängt, als sie nach Alpha an die Beute durften.
Trotzdem bekamen sie noch genug ab, Noire ein großes Kaninchen, Tiffany ein Stück Reh und Maroni drei große Mäuse. Sie legten sich an den Rand der Lichtung, wo niemand sie belauschen konnte.
Als sie sich niedergelassen hatten, ergriff Maroni das Wort: ,,Also, was ist jetzt?"
Nachdenklich kaute Noire auf einem Bein ihres Kaninchens. Erst als sie alles heruntergeschluckt hatte, antwortete sie: ,,Mutter hat euch nicht alles erzählt, bezüglich Flames Wunden."
Tiffany riss die Augen auf und auch Maroni wirkte bestürtzt.
,,Eines stimmt; Er hat drei Wunden, eine an der Stirn, eine an der Schulter und das Hinterbein ist gebrochen."
Sie machte eine Pause.
Das wird jetzt schwer für mich...
Mit leiser, bedrückter Stimme fuhr sie fort: ,,Jedoch wird er nie wieder ganz gesund werden."
,,WAS?"
,,Das kann nicht dein Ernst sein!"
Nach den entsetzten Ausrufen ihrer Freunde senkte sie nur den Kopf und schüttelte ihn leicht, wie um die Schreckensbilder loszuwerden, die sich wieder in ihre Gedanken geschlichen hatten.
,,Snowdrop sagt, die Schulterwunde ist sehr tief und hat den Muskel verletzt. Er wird sein ganzes Leben humpeln.", fuhr sie mit schwerer Stimme fort.
,,Aber... Wie wird er dann jagen können?", fragte Tiffany entsetzt.
Noire brauchte es nicht auszusprechen. Tiffany sah es ihr am Gesicht an, als Noire zu ihr aufblickte.
Jetzt spiegelten sich Noires Trauer und Maronis Entsetzen in Tiffany wieder.
Alle hatten keinen Appetitt mehr und suchten sich einen anderen Wolf, der es für sie aß. Noire fand Federohr, Tiffany Woody und Maroni gab ihre verbliebenen Mäuse an Dagger.
Dann gingen sie gemeinsam in die Welpenhöhle und trennten sich, bevor sie in die jeweiligen Seitengänge gingen.
Noire wusste, dass Maroni und Tiffany auf ihren Schlafplätzen noch lange diskutieren würden.
Sie legte sich auf ihr weiches Moos und schloss die Augen. Auch Noire würde nicht schlafen können, das wusste sie.
Jetzt, mit geschlossenen Augen, kamen die Bilder wieder.
Dreibeiniger Flame, Flame der vom Rudel gehänselt wurde weil er humpelte...
Stopp! Das Rudel würde ihn nie so verraten! Mein Vaterwolf wird von allen respektiert.
Doch sie konnte ihre düsteren Gedanken nicht stoppen. Sie war kurz davor, aufzustehen und noch ein bisschen frische Luft schnappen zu gehen, als ein noch stärkeres Gefühl als das Entsetzen und die Trauer ihren Kopf durchflutete.
Dankbarkeit.
Dankbarkeit für Tiffany und Maroni, die keine Fragen gestellt hatten, sondern Noire getröstet.
Das tiefe Gefühl schaffte es, die Bilder zu verbannen. Sie waren noch da, aber weit hinten in Noires Kopf und nur schwach.
Dann glitt sie endlich in einen tiefen, guten Schlaf.

Wolves - Eine unbekannte GefahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt