55. Die Herausforderung

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Sofort war Noire auf den Beinen. Adrenalin schoss durch ihren Körper und sie war wacher, als man es nach ihrem gebrochenen Schlaf erwarten könnte. ,,Wacht auf!'', jaulte sie noch einmal laut, um die anderen Wölfe endgültig aufzuwecken, die nur langsam die Welt der Träume verließen. 

Dann rannte sie aus der Höhle zu Flame, denn er war es, der Alarm geschlagen hatte. Ihr Vater stand kampfbereit in der Mitte des Lagers und starrte an den Waldrand. Noire brauchte etwas Zeit bis sie erkennen konnte, was Flames Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein undeutlicher Schemen vor den ersten Bäumen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, als sie dem Schatten eine genaue Form und einen Namen geben konnte.

Ein Dachs. Und zwar ein Riese seiner Art. Sie konnte es im Dunkeln nicht ganz erkennen, doch seine kleinen, schwarzen Augen funkelten selbst im schwachen Mondlicht bösartig und die dunklen Streifen hoben sich deutlich vor dem helleren Hintergrund des schnelzenden Schnees ab. Noire lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die langen, gebogenen Krallen bemerkte, mit denen jede Pfote fünffach bestückt war.

Das Rudel kam nur langsam auf die Beine, doch Alpha war schneller da, als Noire es erwartet hatte. Sie sah müde, ausgelaugt und hungrig aus, doch in ihren Augen funkelte etwas, das sie schon lange nicht mehr dort entdeckt hatte. Die Leitwölfin des Rudels bemühte sich nach außen hin zwar, gefasst und kampfbereit zu wirken, doch Noire als ihre Tochter bemerkte ihre Angst und Nervosität, die sich durch kleine Anzeichen wie die zuckende Schweifspitze oder ein minimales Zögern in den Schritten zeigte, als Alpha auf den Eindringling zuschritt.

,,Was willst du?'', knurrte sie. Laut und klar schallte ihre Stimme über die Lichtung und auch die letzten Rudelmitglieder erfassten die Situation. Alle, die schlaftrunken aus der Höhle kamen, rissen sofort entsetzt die Augen auf, als sie den Dachs entdeckten. Viel unterdrücktes Knurren war zu hören und Noire hoffte, dass jeder still blieb und Alpha reden ließ. Sie selbst war etwas überrascht, dass ihre Mutter die Situation wie selbstverständlich übernommen, und sich nicht wie sonst auf Noire verlassen hatte.

Doch etwas irritierte sie. Der Dachs dort, am Rande des Waldes, der seinen Feinden zahlenmäßig sehr weit unterlegen war, zeigte keinerlei Anzeichen von Aggressivität. Er stand einfach da und musterte das Wolfsrudel. ,,Ihr werdet Revier hier verlassen, bis übernächsten Mitternacht.'', sagte das schwarz-weiße Tier mit gebrochener Sprache, die man kaum verstehen konnte, was wohl auch an der raspeligen Stimme des Dachses lag.

Alpha hob herausfordernd den Kopf und fragte knapp: ,,Warum sollten wir das tun?'' Sie bemühte sich sichtlich, keine Gefühle zu zeigen, doch Noire bemerkte wieder einmal, wie es in ihrem Kopf auf Hochtouren arbeitete und sie viele viele Möglichkeiten durchging. Der Dachs knurrte. ,,Weil ihr sonst sterben.'' Seine Worte schallten in der entstandenen Stille klar und laut durch die Nacht.

Kurz darauf ertönte ein Rascheln im Wald, schwere Schritte kamen näher und ein Dutzend weiterer Dachse sammelte sich um den ersten. Um die schwarz-weißen Tiere sammelten sich braune, schwarze, größere. Bären. Noire lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Der Dachs ergriff wieder das Wort: ,,Wir ohne Gnade kämpfen gegen euch. Unser Revier dann. Ihr Zeit habt bis übernächsten Mitternacht.'' Ohne ein weiteres Wort und bevor Alpha oder irgendjemand sonst noch etwas sagen konnte, zogen die Herausforderer ab und verschwanden im Wald.

Eine entsetzte, mörderische Stille entstand. Keiner der Wölfe bewegte sich, keiner sagte etwas. Nach einer kleinen Weile, in der jeder auf die Stelle gestarrt hatte, wo die Bären und Dachse verschwunden waren, rührte sich Alpha. Noire hatte erwartet, dass sie die Sache in die Pfote nehmen musste, doch die Stimme ihrer Mutter war entschlossen, als sie sich umdrehte und die anhaltende Stille durchbrach.

,,Das ist also der Grund, warum sie hier sind.'', sagte sie grimmig. ,,Unser Revier.'' Als hätte sie damit einen Bann gebrochen, wurden nun auch andere Stimmen laut. Viele der Wölfe riefen laut durch die Nachtluft. Mit einem Jaulen brachte Alpha sie zum Schweigen. Alle Augenpaare waren auf sie gerichtet. ,,Was tun wir jetzt?'', fragte Rose leise, doch jeder hörte sie.

Alpha öffnete gerade das Maul, um etwas zu antworten, da kam Noire ihr zuvor: ,,Ich schlage eine Abstimmung vor.'' Verwirrt sah ihre Mutter sie an. ,,Wie meinst du das?'' Noire blickte von Wolf zu Wolf. ,,Eine Abstimmung. Wer kämpfen und wer fliehen will. Die Mehrheit entscheidet.'' Kurz dachte jeder über den Vorschlag nach, dann kam von vielen Seiten Zustimmung.

,,Also gut. Jeder, der kämpfen will, stellt sich zum Sommerfelsen. Alle, die fliehen wollen, gehen zum Fluss.'', beschloss Alpha und Bewegung kam in das Rudel. Noire und Alpha warteten, bis jeder einen Platz gefunden hatte. Alpha ging dann zum Fluss, mit den Worten: ,,Es ist verrückt, gegen so viele Gegner zu kämpfen.''

Nun war nur noch Noire in der Mitte. Gedanken kreisten in ihrem Kopf, die Sätze des Dachses hallten in ihr wieder. Wir ohne Gnade kämpfen gegen euch ... Sie bohrte die Krallen in den matschigen Schnee, dann hob sie den Kopf. ,,Alpha hat recht.'', sagte sie entschlossen. ,,Wir sind nur halb so viele wie sie, und außerdem geschwächt vom Winter.''

Sie stellte sich zu ihrer Mutter und den anderen Wölfen, die sich für die Flucht entschieden hatten. Einen Herzschlag später kam ein vorwurfsvoller Ruf aus der Richtung der Sommerfelsen. ,,Na toll.'', rief Mondschein. ,,Wir sind gleich viele. Und jetzt?'' Schnell zählte Noire durch und stellte fest, dass die Wölfin Recht hatte.

,,Ich vermute mal, dass keiner sich umentscheiden will?'', fragte Noire und erwartete eigentlich keine Antwort. Sie warf einen Blick in die Runde und traf auf ver- und entschlossene Mienen. Jeder hatte seinen Entschluss gefällt und war nicht mehr bereit, diesen zu ändern.

,,Aber ...'', begann Rose neben Noire. ,,Was ist mit den Welpen? Wuschel, Strubbel und Fussel sind ebenfalls Mitglieder des Rudels, lassen wir sie mitentscheiden.'' Ein Sturm aus Jaulen und Rufen brach los. Alpha und Noire ließen ihn einige Zeit wären, doch dann brachte Alpha das Rudel mit einem entschlossenen Ruf zum Schweigen.

,,Rose hat Recht.'', sagte sie. ,,Nightmoon, hole bitte deine Welpen.'' Die Mutter nickte folgsam und verschwand in der Welpenhöhle. Kurz darauf kam sie mit drei um die Beine wuselnden Welpen wieder heraus. ,,Fussel, Strubbel, Wuschel.'', sprach Alpha sie an und die drei jüngsten Mitglieder des Rudels hielten aufgeregt inne.

,,Ihr habt eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.'', sprach Alpha weiter und die drei setzten sich wichtigtuerisch aufrecht hin. ,,Wir wurden zum Kampf herausgefordert. Entweder wir kämpfen gegen eine Übermacht, oder wir verlassen das Revier. Bitte entscheidet euch. Von euch hängt das Schicksal des Rudels ab.''

Das Rudel schwieg. Alle warteten auf die Entscheidung der Welpen, die so viel bestimmen würde. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Strubbel entschied sich als erster. ,,Ich bin für den Kampf.'', sagte er. ,,Wir können doch unser Revier nicht einfach so aufgeben.'' Seine Stimme war so hell, so unschuldig, dass Noire sich fragte, ob die drei wirklich die Richtigen dafür waren, zu entscheiden, ob sie alle um ihr Leben kämpfen, oder eine gefährliche Reise antreten sollten.

Jetzt hob Fussel den Kopf und fragte zögerlich: ,,Wir sind in der Unterzahl, sagst du?'' Die Frage war an Alpha gerichtet, die antwortete: ,,Ja. Sie sind fast doppelt so viele wie wir.'' Fussel sah ihr fest in die Augen. ,,Dann ist es zu gefährlich. Ich bin für die Flucht.'', sagte sie. Noire hielt den Atem an. Alles, wirklich alles, hing jetzt von einem einzigen, kleinen Welpen ab. Besagter Welpe schien sich der Verantwortung sehr wohl bewusst zu sein.

Wuschel saß mit hochgezogenen Schultern in der Mitte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Das ganze Rudel war still und angespannt. Der Welpe hob nicht den Kopf als er sprach, sondern hielt den Blick weiter auf den Boden gerichtet. Alle hingen an seinen Lippen. Mit einem Schauer wurde Noire bewusst, dass ein einzelner Welpe über Leben und Tod einer unbestimmten Anzahl an Wölfen entscheiden würde.

,,Ich ...'', fing Wuschel an. Er zögerte. ,,Strubbel hat Recht. Wir müssen kämpfen.'' Triumphierendes Jaulen der Wölfe, die an den Sommerfelsen standen. Alpha hob den Kopf und sagte: ,,Dann ist es beschlossen. Wir werden für unsere Heimat kämpfen.''

Wolves - Eine unbekannte GefahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt