61. Höchster Sonnenstand

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Jede Faser ihres Körpers schmerzte und sehnte sich nach einer Pause, während Noire schnappte, biss und kratzte, ohne einen sichtlichen Erfolg. Woody kämpfte zwar noch immer Seite an Seite mit ihr, doch auch seine Bewegungen wurden angestrengter und langsamer, seine Augen waren stumpf und sie beide machten immer wieder Fehler, die ihnen Kratzer oder Schlimmeres einbrachten.


Gerade verpasste Noire einem kleinen, schmächtigen Bären vor ihr einen Schlag gegen die Seite seines Kopfes, doch ihrer Pfote fehlten bereits zwei Krallen und sie blutete, sodass sie kaum mehr hinterließ als einen kleinen Kratzer. Stattdessen verlor sie kurz das Gleichgewicht und prompt traf sie eine braune Pranke an der Schulter. Blut spritzte hervor und traf Woody an der Seite, der gerade die Flanke des Bären attackierte.

Noires kompletter Körper schmerzte, sie keuchte stark und wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Ihre Gedanken kreisten um nichts anderes als Woody und ihre Welpen, die nie das Licht der Welt erblicken würden und der Verrat, den sie von Tiffany erfahren hatte.

Seit sie ihre ehemalige beste Freundin im Kampf mit einem Dachs gesehen hatte, kurz nach ihrer Rettung durch Woody, war diese wie vom Erdboden verschluckt. Trotz der Enttäuschung und der Wut, die ihre Gefühle für Tiffany dominierten, hoffte sie, dass die braunschwarze Wölfin noch lebte.

Einen kurzen Moment war Noire in Gedanken gewesen. Prompt büßte sie dafür eine Pfote Fell ihres Vorderlaufs ein. Knurrend wirbelte sie herum und versuchte, dem Bären die Augen zu zerkratzen, doch mit einem Ruck nach hinten entging das Tier ihren Krallen.

Schwer atmend wich Noire zurück, während Woody sich todesmutig auf den Rücken stürzte und sich dort festkrallte. Der Bär heulte auf, er blutete inzwischen schon aus mehreren Wunden, die Woody und Noire ihm mühsam zugefügt hatten.

Das kratzende Gewicht auf seinem Rücken war genug; das Tier machte kehrt, schüttelte Woody ab und trampelte über die Lichtung davon. Noire kümmerte sich nicht weiter darum, sondern stürzte zu Woody, der benommen auf dem aufgewühlten Boden lag.

,,Geht es dir gut?'', fragte sie besorgt und beschnupperte den blutenden, erschöpften Wolf. ,,Nein.'', knurrte Woody durch zusammengebissene Zähne und rappelte sich mühsam auf. ,,Ich frage mich, warum wir noch kämpfen. Früher oder später werden wir doch sowieso sterben.''

Wegen unserer Welpen, dachte Noire, doch jetzt war ganz sicher nicht der richtige Zeitpunkt, um ihrem Gefährten zu sagen, dass er Vater werden würde. Woody erwartete sowieso keine Antwort, denn er leckte sich mit vor Schmerz glänzenden Augen zweimal über einen tiefen Riss an seiner Schulter.

Mit Mühe konnte Noire sich davon abhalten, den Blick über die Lichtung schweifen zu lassen. Alles, was sie sehen würde, könnte wohl kaum zu ihrer Zuversicht beitragen.

Eine schwarzweiße Pranke fuhr nur eine Haaresbreite neben ihrem Auge vorbei und durch Reflex fuhr sie herum und kratzte mit ihrer eigenen Pfote zurück.

Auch Woody fasste sich wieder und kam ihr zur Hilfe. Gemeinsam bekämpften sie den Dachs, der verbissen um sich schlug. Gerade als Noire meinte, ihre Muskeln würden zerreißen, wenn sie sie nur eine einzige Mauselänge mehr bewegte, ertönte ein ohrenbetäubendes Brüllen.

Es ließ jeden Wolf, Bär, Dachs auf der Lichtung erstarren und es wurde still. Bis auf dieses Geräusch, das zu lokalisieren Noires trübe Augen ein wenig brauchten. Das Gebrüll stammte von dem vernarbten, riesigen Bär, der vor zwei Sonnenaufgängen die Herausforderung ausgesprochen hatte.

Mit einem Schaudern erinnerte Noire sich an die raspelige, höhnische Stimme, die das Todesurteil über einige ihrer Rudelmitglieder gesprochen hatte. Rose. Snowdrop. Und wahrscheinlich noch andere, von denen sie nie erfahren würde, weil sie selbst tot sein würde.

Wolves - Eine unbekannte GefahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt