4. Kapitel

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★Jax★

Ausdruckslose Gesichter sitzen meinem Gegenüber.

Meine Familie wartet auf eine Erklärung, wie ich entkommen konnte und Tysan scharrt schon mit den Hufen, um sich zu rächen.
Es ist nicht so, als haben wir ein wirklich gutes Verhältnis. Er will meine Gefangenschaft nur gerne als Vorwand nutzen, um selbem mit selbem zu vergelten.

„Hast du etwas preisgegeben?", fragt meine Mutter mich.
Ich schüttele den Kopf.

„Wie hast dus rausgeschafft?" Dann stellen sie die Frage, die sie beantwortet haben wollen.
Aber ich muss lügen.

Ich werde Reece nicht in Gefahr bringen, indem ich die Wahrheit sage. Denn, dass er mir geholfen hat, macht mich zu einem Objekt, um ihn zu erpressen, da ich ihm anscheinend doch irgendwas bedeuten muss. Sonst hätte er das nicht getan.
Und ich traue es meiner Familie zu, mich zu bedrohen, nur um Reece unter Kontrolle zu haben. Außerdem würden sie es seinem Dad nur unter die Nase reiben und der würde ihm dann noch schlimmeres antun.

Ich muss mir also was einfallen lassen.
„Der Stuhl, auf dem ich festgebunden war, war instabil, sodass er zerbrochen ist und ich meine Fesseln lösen konnte. Dann hab ich bis nachts gewartet und mich rausgeschlichen. Ende der Geschichte"

Glaubwürdig? Naja. Besser als nichts.

„Wer hat sich um deine Wunden gekümmert?" Natürlich sehen sie, dass ich verratzt worden bin.
Ich kann mich glücklich schätzen, dass meine Eltern mich, nachdem ich Tysan von einer Telefonzelle aus angerufen habe, erstmal zum Arzt gebracht und dann erst dem Verhör unterzogen haben.

„Der Sohn von Masters. Er hat mich gefoltert, sollte aber dafür sorgen, dass ich am Leben bleibe und hat sich deshalb gleich um meine Wunden gekümmert"
Meine Eltern nicken verstehend, während mein Bruder die Zähne fletscht. „Reece" knurrt er. „Ich will diesen Bastard endlich auf meiner Folterbank liegen haben" Meine Mutter tätschelt ihm beruhigend die Handfläche. „Keine Sorge, er muss nur einen Fehler machen und wir haben ihn."

„Was haben wir eigentlich gegen die Masters?", frage ich das dümmste, was man wohl fragen kann.
Meine Eltern sehen mich empört an, genau wie Tysan. „Wir hassen uns seit Generationen", erklärt er.
„Ja aber wieso?", will ich wissen.

Ich habe das noch nie verstanden.
Okay, seine und meine Familie kämpfen quasi um die Stadt, aber was wäre das Problem, wenn sich einfach einer von beiden eine andere suchen würde? Oder teilen ist auch nicht so schlecht.
Alles ist besser als dieser Krieg, der mehr Opfer fordert, als er irgendwem gut tut.

Ich gebe zu, dass ich mich vielleicht einfach damit abfinden würde, wenn ich nicht wüsste, das Reece zur Gegenseite gehört.
Aber so... Es ist hoffnungslos wie die Dinge jetzt stehen.

Statt eine Antwort zu bekommen, ernte ich eine Ohrfeige. „Wage es nie wieder, diese Frage zu stellen!", schreit mein Vater mich an, ehe er mich auf die Beine zerrt und in Richtung der Tür stößt. „Los, verschwinde! Ich will dich heute nicht mehr sehen!"
Ohne noch irgendwie zu reagieren gehe ich in mein Zimmer.

Hier erinnert mich alles nur noch mehr an Reece und das Ding dabei ist, dass ich ihn mir diesmal nicht nur vorstellen muss.
Ich weiß, wie er jetzt aussieht, wie er jetzt klingt, ja sogar wie er riecht. Und ich bilde mir ein, dass mein Bett danach duftet.

Den ganzen Tag liege ich einfach nur so herum. Viel mehr kann ich aber auch gar nicht machen, da meine Wunden ziemlich schwer sind. Der Arzt kommt im Laufe des Tages mal vorbei und wechselt meine Verbände. Ein paar der Wunden hat er genäht, weshalb da wahrscheinlich Narben bleiben werden.

Ich sollte Reece dafür hassen, was er getan hat, das weiß ich. Aber ich kann es nicht. Er hatte ja keine Wahl und ich bin mir sicher, er hätte es um einiges schlimmer machen können. Die Handflächen oder der untere Bauch sind schmerzhafte stellen, aber er hat es nur bei der Brust belassen und das obwohl er da noch nicht wusste, wer ich bin.
Er versucht egal wem möglichst wenig wehzutun. Er hasst es genauso sehr zu sein, wer er ist, wie ich.

Könnte ich, würde ich meinen Namen sofort ablegen, doch ich bin in dieses Leben hineingeboren worden und daraus fliehen kann ich nicht. Ich kann nicht davor davon laufen, wer ich bin. Meine Familie würde mich überall finden und alles würde nur noch schlimmer werden.

Der Arzt hat mir zwar Schmerzmedikamente gegeben, aber nachts kann ich trotzdem nicht einschlafen.
Ich liege wach und denke eigentlich die ganze Zeit nur nach, bis ich seltsame Töne höre. Es ist ein klirrendes Geräusch, immer nur ganz kurz.

Es scheint vom Fenster zu kommen. Irgendein Depp wirft Steine an meine Scheiben.

Für sowas bin ich gerade gar nicht in Stimmung, weshalb ich mich aus dem Bett quäle, meine Balkontür aufreiße und raustrete.
Als ich runtersehe, kann nicht fassen, wer da steht.

Ich dachte schon, es sei Selbstmord von ihm gewesen, mich bis zur Grenze zu bringen aber das... Das ist umso vieles Schlimmer.

Reece steht da unten und holt gerade aus, um nochmal einen Stein zu werfen, als er mich erkennt.
„Was machst du hier?" Ich versuche zu flüstern, aber er soll es ja irgendwie hören.
„Ich wollte nach dir sehen.", meint er, als sei es nichts, dass er hier gerade in meinem Garten steht.
Er könnte jedem Moment entdeckt oder von den Überwachungskameras aufgenommen werden.

„Komm hoch, sonst wirst du entdeckt", sage ich.
„Wie denn?"
Ich deute zu dem Baum, dessen Ast zu meinem Balkon führt.

Er mustert den Weg, den er gehen soll und sieht mich dann wieder an. „Ist das dein Ernst? Ich sterbe fünf Mal, bis ich bei dir ankomme"

Unwillkürlich muss ich lachen. Er stirbt, wenn er da unten stehen bleibt. „Du hast keine Angst in das Gebiet der Leute zu gehen, die nichts lieber wollen als dich tot zu sehen, aber dann willst du auf keinen Baum klettern?"
Er verdreht deutlich die Augen und wirft Hände in die Luft. „Na schön."

Wiederwillig macht er sich daran den Baum hochzuklettern.
Ehrlichgesagt sieht das ziemlich geschmeidig aus, weshalb ich ihm dabei zusehen und grinsen muss.
Es wird erst problematisch, als er sich nirgends mehr festhalten kann und er den dünnen Ast zu meinem Balkon balancieren muss. Er versucht es, doch wackelt zu sehr.
Dann scheint er nachzudenken und auch ich suche nach einer Lösung.
In der Zeit kniet er sich hin, schwingt sich unter den Ast und schlängelt sich dann an ihm nach vorne wie Tarzan.
Ich finde es faszinierend, wie sein Bizeps dabei spielt.

Als er dann mein Balkon angekommen ist, schwingt er sich darüber, hängt sich ans Geländer und zieht sich daran hoch.
Er steigt über das Geländer und lehnt sich dann gegen meine Hauswand.

„Also das war mal ein Training", meint er schweratmend.
Ich kann nicht anders als zu grinsen, ehe ich ihn an der Hand nehme und in mein Zimmer führe.

Die Tür schließe ich hinter uns wieder und ziehe die Vorhänge zu, damit es sicher ist. Ich mache nur eine kleine Lampe an, weil zu viel Licht um diese Uhrzeit Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.

Danach stehe ich Reece etwas unbeholfen gegenüber.

Toll, jetzt ist der Typ, den ich eigentlich hassen sollte, in meinem Zimmer und lächelt mich an.

Die Liebe und der Feind (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt