54. Kapitel

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★Jax★

Perplex sehe ich geradeaus.

Dann renne ich los.

Ich wiederhole seinen Namen schreiend.

Ben beugt sich über das Geländer und greift nach unten, aber er ist zu langsam.

Simon sieht zu mir und reißt die Augen weit auf.

Ich renne auf die Brücke, zu der Stelle, an der Reece eben noch gestanden hat, beuge mich über das Gerüst und suche die Wasseroberfläche ab, aber Reece ist nicht zu sehen.

Er ist gesprungen.

„Reece!", schreie ich verzweifelt nach unten.
„Nein", hauche ich geschockt, halte mir die zitternde Hand auf die Lippen.

Simon und Ben starren mich an.

Dann umarmt mich Simon, aber ich starre nur geradeaus.

Reece ist gesprungen. Diese eine Bewegung spielt sich immer wieder vor meinem inneren Auge ab.
Wie konnte er das nur tun?

„Wieso bist du noch am Leben?", fragt Simon mich.
Er klingt so bipolar. Einerseits glücklich, anderseits geschockt und traurig.

„Ich war nie nicht am leben"
„Ich hab deine Leiche gesehen", sagt Simon verwirrt.
Ich schüttele den Kopf und schiebe ihn von mir weg. „Das war ein Trick, Simon. Ich wollte es so aussehen lassen, als sei ich tot, damit ich frei sein kann. Aber ich habe Reece doch geschrieben, dass es mir gut geht und er nicht glauben soll, was er hören wird", verzweifelt kralle ich mir die Finger in die Haare.

Ich kann nicht glauben, dass er gesprungen ist. Was hat ihn da geritten?

„Scheiße, was soll das denn?" Ben sieht an mir vorbei nach hinten und erkennt Marco, der sich zu uns schleppt.
Ben rennt zu ihm und stützt ihn. „Was machst du hier?", fragt er seinen blonden Kumpel vorwurfsvoll.

„Jax war im Krankenhaus und ich habe ihm erzählt, dass wir dachten, er sei tot und dass du dich mit ihm hier triffst und ich wollte mit."
Ben schüttelt den Kopf. „Mann, Marco, du kannst doch nicht so unvorsichtig sein. Du könntest sterben" Ben setzt Marco auf dem Boden ab und setzt sich hinter ihn, um ihn festzuhalten.

„Sag mir bitte, dass er nicht gesprungen ist und ich mir das nur wegen dem Morphin eingebildet habe"
Ben presst die Zähne zusammen. „Es war keine Einbildung" Er sieht so leidend aus, ungläubig, als fasse er nicht, dass das echt real ist.

Aber es ist nichts im Vergleich zu dem, was grade in mir abgeht.
Er kann das unmöglich überlebt haben.
Und ganz ehrlich, ich will es auch nicht überleben.
Ich habe mein Leben aufgegeben, damit ich zu ihm kommen kann. Alle halten mich für tot.
Wieso also, sollte ich es nicht sein?

Ohne Marco und Ben weiter zu beachten, gehe ich auf das Geländer zu.

Aber Simon hält mich fest. „Wage es nicht, das jetzt zu tun", zischt er mir zu.
Ich reiße mich los. „Du kannst das nicht verstehen, Simon. Ich kann nicht ohne ihn. Und ich will auch nicht"

Simon greift wieder nach meiner Hand. „Hör zu, Jax, ich weiß, dass du ihn liebst, aber du siehst doch, was eure Liebe angerichtet hat. Sie bringt nur Tod und Chaos mit sich. Ich bin für dich da, okay? Wir stehen das durch, aber hör endlich auf zu handeln wie ein Liebeskranker Idiot. Das Leben ist nun mal scheiße und ungerecht und es kann wehtun, ja es kann verdammt wehtun, das weiß ich, aber es hat auch seine guten Seiten und es ist viel zu wertvoll, um es einfach wegzuwerfen..."

Ich unterbreche ihn. „Nein, nicht für mich. Meine gute Seite ist gerade die Brücke runter gesprungen. Und ich will hinterher"

Ich will mich wieder losreißen, aber er hält mich fester. „Jax, ich bin für dich da, ich..."

Ich stoße ihn weg. „Ich will aber nicht dich, sondern ihn!"

Er zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen und sieht mich verletzt an.
Ich weiß, dass das wehtun muss, aber es ist nichts im Vergleich zu meinem Schmerz. Ich gehe auf das Geländer zu.

„Bitte tu das nicht", höre ich Simon flüstern.
Ich sehe ihn an. „Es tut mir leid, Simon. Aber ich gehöre zu Reece. Ich muss bei ihm sein"

Und genau deshalb schließe ich die Augen, lehne mich nach vorne und lasse einfach los.

Manche Leute sagen, wenn man stirbt, zieht das Leben an einem vorbei, aber ich sehe gar nichts, nur Bilder von Reece, wie er lächelt, wie er grinst, wie er lacht, wie er mich ansieht.

Sie helfen mir, denn ich habe Angst, während ich falle, große Angst, weil ich weiß, dass der Aufprall vermutlich schmerzhaft wird, bevor ich dann gar nichts mehr spüren werde.

Aber ich bin auch glücklich.
Ich bin endlich frei.
Und ich werde frei sein.
Zusammen mit Reece.

Ich habe zwar noch nie an einen Gott geglaubt, aber trotzdem denke ich, dass es für Reece und mich einen besonderen Ort geben wird, an dem wir wieder zueinander finden, einfach, weil wir zusammen gehören.

Und selbst wenn es kein romantisches Paradies nach unserem beschissenen Leben und beschissenerem Tod gibt, und wir beide nur als verschrumpelte Wasserleichen enden, ist es besser als ohne ihn leben zu müssen.

Denn ich liebe ihn und das ist das einzige, das mir keiner nehmen kann.
Selbst, wenn ich tot bin.

Die Liebe und der Feind (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt