14. Nicht vergessen

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Ich weiß nicht, wie viele Minuten vergangen sind, aber noch nie habe ich innerhalb kurzer Zeit so viele Wörter geschrieben.
Die Tränen auf meinen Wangen sind längst getrocknet und haben ein klebriges Gefühl hinterlassen. Ich klappe den Laptop zu und atme tief durch. Mir bleibt sicherlich nicht mehr viel Zeit, also sollte ich mich beeilen.

In einer großen Tasche verstaue ich Laptop, Ladekabel, Klebezettel und jegliche Bilder meiner Pinnwand. Bilder mit Sam, Justin, Dominik und Bilder, auf denen eigentlich meine Eltern zu sehen sein sollten.

Jetzt wird mir auch bewusst, wie wenig ich in den letzten Wochen an meine Eltern gedacht habe. Klar, ich war schwer beschäftigt, aber hätte ich nicht trotzdem manchmal an sie denken müssen? Was ist der Grund für all das?
Ich bin eine schlechte Tochter.
Ich streiche mir mit der Handfläche über die Wangen und schüttle leicht den Kopf. Darüber kann ich mir jetzt nicht noch mehr Gedanken machen. Ich bin eine Keryno und ich habe eine Mission zu erfüllen.

Mein Blick fällt auf einige Bilder mit Derek. Er ist zwar ein paar Jahre älter als ich, aber trotzdem seit der Kindheit einer meiner engsten Freunde und derjenige, der gemeinsam mit mir zum Schwertkampfverein ging.
Natürlich habe ich ihn nicht vergessen.
Wie oft habe ich die letzten Monaten an ihn gedacht? Mich gefragt, was er macht? Ob er sehr wegen meinem Verschwinden leidet?
Mein Blick fliegt durch den Raum und bleibt am Telefon hängen. Schnell nehme ich es in die Hand und wähle Dereks Nummer, wippe mit dem Fuß auf und ab, doch es ertönt nichts außer einem nervigen Piepton.

Natürlich sind die Leitungen tot.
Ich schreie leise auf und schmeiße das Telefon durch das Zimmer.
Was macht er?
Wo ist er? Geht es ihm gut? Lebt er... überhaupt noch?
Heftig schüttle ich den Kopf, sodass meine Haare hin und her fliegen.
Natürlich lebt er noch.
Wie gerne ich mich jetzt auf die Suche nach ihm machen würde, aber was kann ich schon anrichten? Derek wohnt in einem völlig anderen Stadtviertel und dort hinzukommen ist jetzt vollkommen unmöglich. Es ist schlichtweg zu weit weg und viel zu gefährlich.
Wenn die Vampire vor allem die jungen Menschen gefangen nehmen, wird er noch am Leben sein. In diesem Moment bleibt mir leider nichts anderes übrig, als mich erneut an die Hoffnung zu klammern.

So gut es geht stopfe ich das Lieblingskleid meiner Mama und ein Hemd von Papa ebenfalls in die Tasche, ehe ich langsam die Treppe hinunter gehe und dabei langsam mit der Hand über das Geländer fahre.
Alles ist so staubig, so fürchterlich leblos. Wo sind nur die fröhlichen Tage in diesem Haus hin?
Verdammt, ich kann mich ja nicht einmal mehr wirklich an sie erinnern.
Ich nehme jede winzige Ecke des Hauses in meine Erinnerungen auf, während der Kloß in meinem Hals schon wieder dicker und dicker wird, mir beinahe die Kehle zuschnürt.

Das ist vermutlich das letzte Mal, dass ich das hier sehen werde. Wahrscheinlich werde ich nie wieder hierher zurückkehren und selbst wenn, wird das womöglich eine halbe Ewigkeit dauern.

Vorausgesetzt ich überlebe all das.

Wie kann es sein, dass ich mich an so wenig erinnern kann, der Abschied hiervon sich jedoch trotzdem so anfühlt, als würde man abertausende Nadeln mitten in mein Herz stechen?
Der Schritt nach draußen und das Abschließen der Tür sind das Schlimmste. Im Grunde genommen macht es keinen Sinn, aber ich kann die Tür nicht einfach offen lassen.

„Alles gut bei dir?", erkundigen sich Finn und Jonas sofort.

Ich versuche mir ein Lächeln abzuringen, doch meine Mundwinkel scheinen plötzlich Tonnen zu wiegen. „Ja, alles gut, aber wie erwartet sind sie bereits fort. Die Vampire müssen sie mitgenommen haben", bringe ich nach einem Räuspern hervor.

Prompt nehmen mich die beiden Jungs in die Arme. Erneut steigen mir Tränen in die Augen. Erst nachdem ich mir auf die Lippen gebissen und mehrere Male ein- und ausgeatmet habe, traue ich mich wieder etwas zu sagen.

Keryno - Aufstand der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt