22. Schmerzhafte Begegnung

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Mit zitternder Faust starre ich die Frau an, ehe ich meinen Blick über den Rest schweifen lasse. Alle haben erschrocken den Mund geöffnet und Schweißperlen tanzen auf ihren Stirnen. Ist das etwa Furcht, die sich in ihren Augen widerspiegelt?
Vor... mir?
Ich lockere meine Fäuste auf, schließe für einen kurzen Moment die Augen und atme tief durch.

„Ich, und jeder von meinen Kameraden, kann euer Leid und eure Gedanken absolut nachvollziehen. Mir ist bewusst, dass diese Situation für euch in keinster Weise leicht oder zu akzeptieren ist, aber für uns ist es auch nicht leicht. Uns ist bewusst, dass wir darin versagt haben, den Krieg zu verhindern. Auch wir verlieren jetzt gerade geliebte Menschen, weil sie für euch alle ihr bestes geben. Ich, nein, wir erwarten nicht von euch, die Umstände zu akzeptieren, doch nun ist es nicht an der Zeit, mit dem Finger auf uns zu zeigen und uns zu beschuldigen. Gerade jetzt brauchen wir einander am meisten. Unseren Zusammenhalt, unsere gegenseitige Unterstützung. In solchen Zeiten dürfen wir nicht streiten, einander anschreien oder einen Sündenbock suchen. Was passiert ist, ist passiert. Es gibt keine Möglichkeit, die Situation draußen umzukehren oder abzubrechen. Wir alle haben großen Schmerz erlitten und werden es auch noch weiterhin tun, jedoch sollten wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Ich bitte euch. Macht es uns und euch nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist."

Die Frau, die mich zuvor angeschrien hat, sinkt auf ihre Knie und bricht wenige Sekunden in leises Schluchzen aus.
War ich zu harsch?
Ich schüttle leicht Kopf. Ein tiefer Seufzer verlässt meine Lippen. Es geht hier nicht nur um mich. All meine Kameraden haben so viel zu tun und müssen stark bleiben, obwohl sie ebenfalls geliebte Menschen verlieren, da sollten die Überlebenden hier nicht noch mehr Ärger verursachen. Ich weiß, ich weiß, für sie ist es nicht leicht...
Dennoch kann ich nicht zulassen, dass sie die anderen Keryno noch mehr herunterziehen.
Ich wende mich von der Frau ab und fahre damit fort, Essen zu verteilen.
So gut es geht versuche ich den Vorfall und die ständige Sorge um Levi, Sumiko, Finn, Jonas – und natürlich all die anderen Keryno – auszublenden und ein Lächeln aufzusetzen. Den schweren Brocken auf meiner Brust jedoch kann ich nicht ausblenden.

***

Es ist mittlerweile 15 Uhr und sie sind immer noch nicht zurück. Bis gerade eben habe ich wieder den Verletzten geholfen, nun gilt es die Überlebenden mit neuem Trinkwasser zu versorgen.
Hier und dort komme ich mit einigen in ein nettes Gespräch, wofür man mir sehr dankbar zu sein scheint. Natürlich, jeder hier ist über die noch so kleinste Ablenkung froh, immerhin gibt es in der Halle kaum etwas, womit sie sich beschäftigen können.
Gerade, als ich mich in Richtung des Ausgangs begeben möchte, höre ich meinen Namen.
„Sienna?"
Ich halte mitten in der Bewegung inne.
Mein Kopf ist auf einmal wie leer gefegt und meine Hände zittern. Meine Lippen formen sich zu einem schiefen, unechten Lächeln.
Vorhin habe ich so gut wie möglich versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt sprechen sie mich wohl an, was? Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde und trotzdem weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Hunderte Gefühle strömen durch mich hindurch, völlige Gegensätze treffen aufeinander.

Einerseits bin ich so glücklich, ihre Stimmen hören und sie alle sehen zu können. Am liebsten würde ich mich in ihre Arme werfen und dennoch traue ich mich nicht, mich umzudrehen. Andererseits wäre es mir lieber, mich nicht mit ihnen unterhalten oder sie sehen zu müssen.
Ja, sie alle erinnern mich an die wunderschönen Zeiten, vor allem jene mit Sam, Justin und Dominik, aber auch an deren Tod. Erinnern mich an die Tage, die längst hinter mir liegen und nur noch eine Halluzination meiner selbst zu sein scheinen.
„Sienna? Wir wissen, dass du es bist."
Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und versuche den sich in meinem Brustkorb aufbauenden Sturm zu vertreiben. Ich atme ein letztes Mal tief durch, ehe ich mich umdrehe.
Für einen Augenblick wird mir jegliche Luft aus den Lungen gepresst.
Ohne etwas dagegen tun zu können, treten mir Tränen in die Augen und es fühlt sich an, als würde man mir eine Klinge ins Herz rammen.

Keryno - Aufstand der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt