23. Rückkehr

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Ich muss hier raus. Ihre stechenden Blicke im Rücken scheinen mir beinahe ein Loch in den Brustkorb zu brennen.
Tausende Erinnerungen durchfluten meine Gedanken wie ein Tsunami. Wie Sam, Dominik, Justin und ich auf dem Pausenhof oder im Unterricht mit unseren Klassenkameraden herumalbern, Witze reißen, Spaß haben.
Wie wir ab und zu gemeinsam gefeiert oder gezockt haben. Erinnerungen nur mit Sam, Justin und Dominik, wie wir uns jedes Wochenende getroffen haben, nahezu alles miteinander gemacht haben. Bei schlechtem Wetter würden wir bei mir chillen und meine...
Meine was?

Verzweifelt versucht sich mein Kopf automatisch an etwas zu erinnern.
Diese unzähligen Bilder und Szenarien, die mich durchströmen und die zunehmenden, lauten Unterhaltungen und Schreie, die an meine Ohren dringen.
Nur beiläufig bemerke ich, dass mir immer mehr Menschen entgegen kommen.
Mein Schädel fühlt sich so an, als hätte sich ein Bienennest in ihm festgesetzt. Stöhnend fasse ich mir an die Stirn, als mich plötzlich jemand anrempelt.
Ich will mich gegen den Boden stemmen, doch auf einmal fühle ich meine Beine und auch meinen linken Arm nicht mehr. Als würden sie gar nicht existieren.
Ich kneife die Augen zusammen und warte auf den Schmerz. Vergeblich.

Ich keuche erschrocken auf, als sich ein Arm um meine Taille schlingt und meinen Zusammenprall mit dem Boden verhindert. Reflexartig reiße ich die Augen auf und hole mit der rechten Hand aus. Gerade so kann ich sie in der Luft anhalten, genau vor seiner Wange.
„Levi?", rutscht es mir mit unangenehm hoher Stimme heraus.
Ohne etwas dagegen tun zu können, schießen meine Mundwinkel in die Höhe und mein Herz erwärmt sich ganz von selbst. Ohne zu zögern schlinge ich meinen rechten Arm um seinen Hals und ziehe ihn an mich heran. Prompt treten mir Tränen in die Augen.
„Du bist wieder da", hauche ich leise.

Ich sehe ihm wieder ins Gesicht und er öffnet den Mund, schließt ihn jedoch wieder, als er mir in die Augen sieht. Wie vom Blitz getroffen schaue ich nach rechts und links, kann aber nirgendswo Jonas, Finn und Sumiko ausmachen.
„Wo sind sie? Geht es ihnen gut?!"
In mir hat sich eine Unruhe ausgebreitet und meine Alarmglocken schrillen.
„Beruhig dich, es ist alles in Ordnung. Sie waren schon auf der Krankenstation und ruhen sich jetzt in ihren Zimmern aus. Es geht ihnen gut", sagt er mit zärtlicher Stimme.
„Es muss schrecklich für dich gewesen sein, nicht wahr?", flüstert er und streicht mir sanft übers Haar. „Den ganzen Tag hier festzusitzen, ohne zu wissen, was mit uns ist."

Eine unbeschreibliche Last, größer als der Mount Everest, fällt mir vom Herzen. Eine Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange.
All die Sorgen der letzten Stunden und die Angst, dass meine kostbare Familie nicht wiederkommen würde, fallen von mir ab. Es ist komisch, wie mir Tränen über die Wangen rollen, obwohl ich doch lächle.
„Ist alles okay bei dir?"
„Natürlich, ich hatte nur solche Angst um euch, d-"
„Das meine ich nicht", unterbricht Levi mich und schaut auf meine Beine herab.
Mist.
„Ehm, ja, ich war nur ein bisschen abgelenkt und habe nicht aufgepasst, als mich jemand angerempelt hat. Dumme Sienna", stammle ich und lache nervös.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir uns noch immer in dieser Stellung befinden und plötzlich nehme ich seine große Hand an meiner Taille umso mehr wahr. Prompt steigt mir das Blut in die Wangen und sie beginnen zu brennen, als habe man ein Feuer in ihnen entfacht.

Doch zur selben Zeit breitet sich erneut eine unangenehme Unruhe wie ein Sturm in mir aus. Ich kann meine Beine und meinen linken Arm immer noch nicht spüren. Meine Augen fliegend nach rechts und links.
Sind hier jetzt mehr Menschen als vorher? Ja, das müssen die neuen Überlebenden sein. Meine Freude hält sich allerdings in Grenzen, weil die Gespräche in der Halle und das Schreien und Weinen immer lauter werden. Dass alles durch Echos verschlimmert wird, macht es nicht gerade besser. Die Bienen in meinem Kopf brummen immer ungestümer, Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn.
Das wird mir alles zu viel.
Nur wie soll ich weg gehen, wenn ich meine doofen Beine nicht spüre? Ich möchte es Levi auch nicht sagen, weil er mich dann nur wieder ausschimpft.
„Von wegen", sagt er skeptisch mit gehobener Augenbraue.

Keryno - Aufstand der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt