30. Ruhe währt nicht lange

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In Lane hätte man diesen Anblick nie genießen, geschweige denn überhaupt zur Kenntnis nehmen können.
Zu sehr stünden die Wolkenkratzer im Weg und die vielen Lichter der Stadt, die selbst nachts nicht ruhen, rauben den Sternen jegliche Aufmerksamkeit. Sie gehen völlig unter.
Doch hier oben, fernab der Stadt und jeglichen Blickhindernissen, hat man freie Sicht auf den wunderschönen Nachthimmel.
Die Sterne heben sich wie prachtvolle Diamanten von dem dunklen Untergrund ab. Einer größer, einer kleiner. Der eine scheint stärker zu funkeln, der andere eher weniger.
Und ihre Schönheit ist ohne Probleme zu bewundern, denn Lane liegt im Dunkeln.
Die Stadt wirkt nahezu leblos, aber der Himmel dafür umso lebendiger.

Nur das Pfeifen des Windes, der mit unserer Kleidung und unseren Haaren spielt, ist zu hören. Verstohlen schiele ich nach unten, zu unseren ineinander verschränkten Hände.
Und wenn man ganz genau hinhört, kann man vermutlich auch mein Herz schlagen hören.
Das hat jetzt nämlich prompt drei Gänge zugelegt.

So sitzen Levi und ich seit etlichen Minuten da, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Genießen einfach nur die Nähe des jeweils Anderen und den Anblick des atemberaubenden Nachthimmels.
Doch gleich darauf wird die Stille unterbrochen.
„Ich würde dir ja gern meine Jacke geben, aber ich habe selbst keine dabei. Geh dir was wärmeres anziehen."
Augenblicklich schießt mein Kopf in seine Richtung.
Ich dachte, ich hätte es gut genug versteckt und mir das Bibbern und Zittern verkniffen, also wie konnte er es trotzdem bemerken?
Ich schnaufe leise lachend auf. „Genau das liebe ich an dir."
Sofort reiße ich die Augen auf und brennende Hitze steigt mir in die Wangen. „Dann bin ich eben kurz weg", stottere ich und rapple mich leicht unbeholfen auf.

Peinlich berührt verlasse ich das Dach. Als ich auf der obersten Brücke stehe, starre ich auf meine linke Handfläche.
Seine Hand war so warm. So angenehm warm.
Doch dann durchfährt mich ein Kälteschauer.
Wir haben zwar noch immer Sommer, aber die Nächte werden immer frischer. Dazu kommt noch, dass wir so weit oben waren.

Ich hopse die Treppen runter und gehe durch die Flure Richtung Eingangshalle. Am liebsten würde ich umherspringen, singen und in die Welt hinausschreien. Allerdings sind noch einige Schüler wach, wäre also keine gute Idee.
Je näher ich meinem Zimmer komme, desto schneller werden meine Schritte. Ich renne beinahe.
Kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, springe ich auf und ab, fuchtle mit meinen Armen und Händen herum und quieke wie ein Meerschweinchen.
Levi hat dieselben Gefühle!
Ich bin mit ihm zusammen.
Ich bin mit Levi zusammen!

Quietschend bedecke ich mein Gesicht mit meinen Händen.
Das ist kaum zu fassen!
Ist das ein Traum? Wenn es einer ist, dann möchte ich nicht aus ihm aufwachen.
Schnell ziehe ich mir wärme Sachen an und werfe mir eine Jacke über. Ich schnappe mir eine dünne, aber flauschige Decke aus meinem Schrank und vergrabe quiekend mein Gesicht in ihr.
Mein Kopf scheint jede Sekunde zu explodieren, so heiß fühlt er sich an.
Oh Gott, ich hatte meinen ersten Kuss!
Noch immer ist es, als könnte ich seine weichen Lippen auf meinen fühlen. Seine Hände auf meiner Hüfte.

Ich drücke die Decke gegen meine Brust und mache mich wieder auf den Rückweg.
Das ist einfach so irre!
Davon hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt – okay, ehrlich gesagt habe ich das schon getan.
Mehrere Male.
Meine Schritte werden immer schneller.
Ich möchte nicht eine Sekunde verschwenden. Doch auf der obersten Brücke werde ich wieder langsamer.

Oh Gott, aber wie soll ich jetzt wieder da hoch? Mich einfach wieder zu ihm setzen? Worüber soll ich mit ihm reden? Wie soll ich mich verhalten?
Hilfe!
Urgh, auf der einen Seite will ich unbedingt nach oben, aber andererseits würde ich mich am liebsten auf den Fersen umdrehen und zurückgehen.
Das ist einfach so peinlich!
Oh man Sienna, andere hatten in deinem Alter schon zig Beziehungen, das ist gerade mal deine erste also reiß dich zusammen!
Sam, leiste mir Beistand.

Ich atme laut aus, ehe ich mich wieder nach oben schwinge.
Levi hat das linke Bein angewinkelt, während das andere ausgestreckt ist und mit den Händen stützt er sich nach hinten ab.
Der Mond taucht ihn in ein mystisches Licht und lässt ihn wie einen Gott erscheinen. Obwohl der Wind hier oben relativ stürmisch ist, wehen Levis Haare sanft hin und her.
Mit klopfendem Herz setze ich mich neben Levi und lege die Decke um uns. Als er mich von der Seite anlächelt, springt mein Herz beinahe wieder aus seinem Fleck.
Auf einmal zieht er mich an seine Brust, aber so, dass ich noch immer den Ausblick genießen kann.
Zuerst halte ich überrumpelt die Luft an, doch dann schließe ich für einen Moment die Augen und schlinge meine Arme um Levis Hüfte, den Blick auf die Ferne gerichtet.

„Ich würde am liebsten wegrennen. Mit dir und den Anderen."

Überrascht schaue ich zu ihm hoch. Seine gesprenkelten Augen spiegeln die unzähligen Sterne wider und lassen sie wie ein eigenes Universum erscheinen.

„Wer nicht? Alle denken immer, nichts könnte dich klein kriegen, aber das stimmt nicht. Du bist auch bloß ein Mensch. Seit Tagen bist du nur unterwegs. Mission, Quartier. Nach Überlebenden suchen, Tote sehen, Vampire bekämpfen, Kameraden verlieren, im Quartier aushelfen. Andere können sich nach der Mission ausruhen, du nicht. Du bist einfach ausgelaugt."
Ich verschränke seine Hand mit meiner. Wer kann es ihm verübeln?

„Es ist einfach..." Er seufzt. „Ich sollte das nicht sagen, aber ich bin den Krieg jetzt schon satt. Jeden Tag das gleiche. Losziehen, mit der Angst Kameraden zu verlieren, Fehler zu machen und doch mit der Hoffnung, einen Lichtschimmer zu erkennen. Jede Nacht liege ich hellwach im Bett und denke an all die Menschen, die ich nicht retten konnte. Überlebende sowie Keryno." Ich öffne den Mund, doch Levi spricht schnell weiter und drückt leicht meine Hand. „Ich weiß, ich weiß. Es ist nicht meine Schuld – zumindest nicht immer. Trotzdem frage ich mich: Was wäre gewesen wenn? Ich dachte, ich wäre immun gegen diese Anblicke, dass ich nach all diesen Jahren abgestumpft wäre."

„Bist du aber nicht. Wer könnte das schon sein? Das würde bedeuten, dass man sich an das Töten und an die Sterbenden gewöhnt hat – doch das dürfen wir nicht. Das zeigt, dass du trotz allem deine Menschlichkeit behalten hast", wende ich ein. „Du denkst immer, du dürftest keine Schwäche zeigen, doch es ist okay. Ich liebe jede Seite an dir, auch diese."
Nervös beiße ich mir auf die Lippen. Es ist komisch, diese Worte offen zu sagen.

„Und ich liebe dich dafür, dass ich bei dir so sein kann wie ich wirklich bin. Das war schon von Anfang an so", gesteht er und drückt einen Kuss auf meine Haare. „Sonst beruhigt mich deine Nähe und umso mehr hat sie mir in den letzten Tagen gefehlt."

Mein Lächeln wird immer breiter und plötzlich treten mir Tränen in die Augen. „Was auch passieren mag, lass uns immer einander finden, egal wie weit wir voneinander getrennt sind. Wenn wir auseinandergerissen werden, holen wir den Anderen zurück. Egal wie weit er entfernt ist."

„Versprochen. Ich werde für immer an deiner Seite sein. Ich kann und will gar nicht mehr ohne dich. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm die letzten Tage waren."
Hitze steigt mir in die Wangen, doch als er mich auf die Stirn küsst, kann ich nicht anders als zu lächeln. „Ich werde auch für immer an deiner Seite sein."

Keryno - Aufstand der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt