38. Der Samen

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Mit dem Knall der Tür bricht alles aus mir heraus. Als würde ein Damm brechen und das ganze Wasser, das zuvor noch zurückgehalten wurde, nun jegliche Täler und Dörfer der Umgebung mit sich reißen. Ich stoße die Tür zum Badezimmer auf und sehe mich selbst im Spiegel an. Blass wie ein Stück Papier, geschwollene, gerötete Augen. Die Lippen vom Beißen ganz blutig und rissig. Vereinzelte Haarsträhnen hängen mir im Gesicht.

Wer bist du?

Das kann nicht ich sein.

Erneut spielt sich die Szene in meinem Kopf ab. Wie kann das sein? Ich bin der Keryno-Organisation beigetreten, weil meine Familie, meine besten Freunde, von Vampiren getötet wurde. Weil ich mich an ihnen rächen wollte für das, was sie getan haben. Weil ich die Menschen vor ihnen beschützen wollte. Weil ich sie hasse. Weil ich sie so abgrundtief hasse und verabscheue.
Warum habe ich das dann getan?
In der einen Sekunde hasse ich die Vampire, töte sie ohne mit der Wimper zu zucken und dann rette ich plötzlich einen? Eine einzelne Träne rollt mir über das Gesicht, die ich harsch wegstreiche. Mit wackligen Beinen kralle ich mich am Waschbecken fest.

Aber es war doch bloß ein Kind, oder nicht?

Was hätte ich denn tun sollen? Ein unschuldiges, wehrloses Kind töten?

„Sie sind nicht unschuldig. Sie sind genau solche Monster wie ihre Eltern", hallen die Worte der Anderen in meinem Kopf wider.

Ich hätte es töten sollen. Vampire gehören getötet, egal ob groß oder klein, jung oder alt. Aber ist das wirklich so?
Meine Lippen verziehen sich zu einem verbitterten Lächeln. Ich sollte meine Entscheidung zutiefst bereuen, nicht wahr?
Doch mein Herz kennt die Antwort bereits.
Ich drehe mich bloß im Kreis, weil ich mit aller Macht die Ideologie der Organisation aufrechtzuerhalten versuche. Weil ich versuche, mir selbst eine Lüge aufzutischen, von der ich, von der mein Herz bereits weiß, dass sie eine solche ist. Den Verstand kann man trügen, nicht aber das Herz.

Ich mag die Vampire hassen, aber ich kann kein Kind töten. Und wenn es zehn Mal ein Vampirkind war. Niemals würde ich ein Kind töten, es hätte mir gar nichts entgegenzusetzen. Es kann doch gar nichts dafür und wäre mir einfach hilflos ausgeliefert. Als würde man eine Schildkröte töten, die sowieso viel zu langsam ist und kaum Chancen hat, sich zu wehren.
Obwohl ich weiß, dass ich eines der schwersten Verbrechen der K.O. begangen habe, indem ich einem Vampir geholfen und ihm das Leben gerettet habe, fühle ich mich in keinster Weise schlecht. Aber genau das wiederum ist es, weshalb ich mich trotzdem schlecht fühle.

Für einen Moment kneife ich die Augen zusammen.

Ich habe einem Vampir, unserem Feind geholfen. Der Spezies, die meine Freunde, die für mich Familie waren, getötet und mein Leben zerstört haben. Die täglich ohne Rücksicht Menschen töten, sie wie Vieh behandeln und nun das Gleichgewicht auseinanderbringen und Chaos verbreiten.
Ich sollte mich deswegen schlecht fühlen, nicht weil ich es eben nicht tue, und es bereuen, aber das tue ich nicht. Warum nicht? Alle anderen finden es selbstverständlich, sogar Vampirkinder umzubringen. Es ist normal für sie. Vampir ist Vampir. Und Vampire sind abscheulich, das weiß ich mit am besten. Aber warum kann nur ich nicht so denken, trotz alledem was ich durchgemacht habe? Was ich erlitten habe?

Ein Samen in mir beginnt langsam zu keimen.

Wenn ich jedoch denke, dass Vampirkinder nichts für ihre Herkunft können, gilt das Gleiche dann nicht ebenso für ihre Eltern?

Eine Gänsehaut fährt mir über den gesamten Körper und lässt alle Haare zu Berge stehen. Ich befinde mich auf ganz dünnem Eis. Sollte ich jetzt auch nur eine winzige Bewegung machen, breche ich durch und dann würden meine Gedanken eine Richtung einschlagen, die ganz und gar nicht gut wäre. Das spüre ich.

Keryno - Aufstand der VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt