Ein Hilferuf

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Herbst 1974 D.Z.

Graue Wolken bedeckten den Himmel über Fornost. Die Stadt lag im trüben Licht eines Herbsttages. Scharfer Wind blies gefärbtes Laub durch die Straßen und schmalen Gassen. Ein Gefühl tiefer Verzweiflung lag über der Stadt. Alles wartete, ohne zu wissen, worauf.

Saela stand in der Eingangshalle ihres Hauses und wartete auf ihre Dienerin. Eben legte sie einen dicken Wollmantel um ihre Schultern, um sich vor dem bereits sehr kalten Wind zu schützen. Da kam durch eine Seitentür Orla herein. Die Magd war nun schon seit einigen Jahren in Saelas Diensten. Auch sie war in einen dicken Mantel gehült, auch wenn er aus gröberem Stoff bestand. An ihrem Arm hing ein großer Korb. Rechts von ihr lief Saelas einziges noch lebendes Kind, ihre Tochter Kara. „Ich will aber mit zum Markt!", rief sie wütend. Orla lachte, schüttelte aber den Kopf. „Nein, Kara, heute nicht. Geh in die Küche und laß dir von der Köchin etwas zu naschen geben, bis wir wieder da sind.", erwiderte sie. Kara schürzte empört die Lippen. Sie war mittlerweile kein kleines Kind mehr, das mit Naschereien in der Küche ruhig zu stellen war. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah sie zornig von Orla zu ihrer Mutter und zurück. Dann drehte sie sich um und ging mit hinter sich zuschlagender Tür aus dem Raum.

Orla und Saela tauschten Blicke. Es war besser so, wenn Kara nicht mit kam. Es war gefährlich genug, sich zu dieser Zeit aus dem Haus zu trauen. Saela entriegelte die Tür und sie traten auf die Straße. Rasch eilten die beiden Frauen nebeneinander die Straße hinab in Richtung Marktplatz. Saelas Blicke schossen nach rechts und links zu den umliegenden Häusern. In dem feinen Viertel der Adeligen hielt sich außer ihnen kaum jemand auf den Straßen auf. Und die Leute, die unterwegs waren, eilten mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbei. Die unteren Fenster der Häuser hatte man mit hölzernen Fensterläden verschlossen und Saela ahnte, dass hinter jeder Tür abgeschlossen wurde. Die einst so freundlichen und offenen Häuser dieses Viertels wirkten abweisend.

Betrübt dachte Saela an die letzten Jahre, die vergangen waren. Seit der Verbannung der Königin Firiel waren 12 Jahre vergangen. Mittlerweile war es Herbst im Jahr 1974 des dritten Zeitalters. Einen Großteil dieser Zeit befand sich Orla nun in ihren Diensten. Nach Firiels Verbannung hatten die beiden Frauen sich gegenseitig in ihrer Trauer und ihrem Entsetzten unterstützt. Anfangs hatten ihre Gespräche sich einzig und allein um die gemeinsame Freundin gedreht. Beide waren schwer getroffen von der Verbannung und krank vor Sorge gewesen. Sie hatten es nie ausgesprochen, aber sie hatten beide gefürchtet, dass sowohl Firiel als auch ihr kleiner Sohn Arion die Wildnis nicht überleben würden. Seit dem schicksalsvollen Tag vor 12 Jahren, an dem man Firiel aus der Stadt eskortiert hatte, war keine Nachricht über die ehemalige Königin nach Fornost gekommen. Längst hatten Saela und Orla sich stillschweigend damit abgefunden, dass Firiel und Arion gestorben waren.

Die Hinrichtung Ildions hatte die Bevölkerung hoffen lassen, dass sich der Krieg nun endlich zum Guten wenden würde. Obwohl auch sie beide von der Tatsache, dass Ildion für Angmar spioniert hatte, schockiert gewesen waren, so hatten auch sie gehofft. Anfangs waren ihre Hoffnungen erfüllt worden. Tatsächlich beruhigte sich der Krieg. Arveduis Truppen gewannen sogar Land zurück und das Volk atmete auf. Doch dann, vor wenigen Jahren, hatte das Schicksal sich wieder gegen sie gewandt. Langsam waren Nachrichten nach Fornost gedrungen, dass der Feind wieder erstarkte. Seine Heere wurden noch zahlreicher und sie drängten die Menschen Arthedains immer weiter zurück.

Seit wenigen Monaten nun strömten täglich Flüchtlinge in die Stadt hinein. Adelige, Bauern, Mägde, Handwerker und Händler, jeder floh vor dem nahenden Grauen. Sie brachten Schreckensnachrichten von brennenden Dörfern, Burgen und Städten und Horden schauderhafter Kreaturen. Die Geflohenen fristeten ihr Dasein nun in den unteren Vierteln der Stadt. Noch war das Viertel der Adeligen und Reichen von ihnen frei, doch mit jedem Tag kamen mehr.

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt