Aranarths Bitte

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Tief über den Hals seines Pferdes gebeugt preschte Aranarth immer weiter nach Westen. Die Mähne seines Reittieres peitschte ihm ins Gesicht. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Neben ihm ritt der Zauberer Mithrandir auf seinem Pferd, das keine Erschöpfung zu kennen schien.

Sie ritten so erst seit wenigen Tagen. Schweigend trieben sie ihre Pferde zu Höchstleistungen an, machten immer wieder nur kurz Rast, um auszuruhen und die Pferde nicht zu sehr zu erschöpfen. Mithrandir führte den jungen Prinzen durch das wilde Hochland von Arthedain, dann schließlich durch Wälder und sanfte, hügelige Auenlandschaften.

Aranarth versuchte, seine Gedanken auf das Kommende gerichtet zu halten. Doch das war sehr schwierig. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Mithrandir würde ihn zu den Elben an der Küste bringen. Dort würde er vor Cirdan treten und ihn wenn nötig auf seinen Knien liegend um Hilfe anflehen. Doch dann? Was würde dann geschehen?

Sein von all den Kämpfen und Entbehrungen müder Geist wandte sich immer wieder dem Vergangenen zu. Er sah seinen Vater, der ihn fort geschickt hatte, seine Mutter, wie sie ihn voller Kummer verabschiedet hatte. Erneut entstand vor seinem Auge das Bild des brennenden Fornost, das er und der Zauberer aus sicherer Entfernung beobachtet hatten. Zu gut erinnerte er sich an das Gefühl von Scham und Abscheu, das in ihm aufgestiegen war, als er sich zur Flucht abgewandt hatte. Es war ein Befehl seines Vaters gewesen und dennoch schämte er sich über seine Flucht.

An seinem Sattel festgemacht hing der Beutel, den sein Vater ihm überreicht hatte. Immer wieder schlug er dem jungen Krieger gegen das Bein und erinnerte ihn an die Worte seines Vaters. „Du musst unser Volk führen... nimm meinen Platz ein..." Seine Hand tastete nach dem Beutel und fühlte den kostbaren Inhalt. Die Krone des Königs, Zepter und Siegelring hatte er seit seinem Aufbruch nicht mehr heraus geholt. Es schien ihm, als wären die Königsinsignien etwas fremdes, was nicht zu ihm gehörte. Sein Vater hatte sie ihm übergeben und dennoch weigerte sich sein Herz, sie völlig anzunehmen. Denn das würde bedeuten, den Tod Arveduis Tod zu akzeptieren. Und Aranarth weigerte sich, davon auszugehen, dass sein Vater gefallen war. Er war nicht König. Noch immer war er ein Krieger und Prinz von Arthedain. Das würde sich nicht ändern.

Von seinem Vater wanderten seine Gedanken zu seiner Mutter. Wo war sie? Diese Frage brannte in ihm. Sie ließ ihm keine Ruhe. Er wusste nur, dass sie irgendwo dort draußen in der Wildnis das Volk Richtung Westen führte. Doch sie waren viele und langsam. Vor seinem inneren Auge spielten sich scheußliche Szenen ab, wie die Flüchtlinge versuchten, die nördlichen Höhen zu überwinden, verfolgt von Orks und anderen Ungeheuern. Er sah seine Mutter irgendwo im Schnee liegen, leichenblaß und bewegungslos. Voller Angst trieb er das Pferd zu größerer Eile an.

Wenn er seinem Vater schon nicht helfen konnte, so musste er doch Cirdan darum ersuchen, dass man nach seiner Mutter und ihrem Volk suchte. Wann erreichten sie endlich die Küste? Er hatte aufgehört, die Tage zu zählen, die sie nun schon unterwegs waren. Sie verschwammen in einem einzigen Wirbel aus Bildern, scharfem Wind, der ihm entgegen schlug, dem Getrappel der Pferdehufe und Sorgen.

„Mein Prinz!", rief Mithrandir ihm da zu. Unwillig zügelte Aranarth seine Stute. Der Zauberer deutete nach vorne. Der Prinz folgte seiner Geste mit den Augen. Und richtete sich mit einem Mal voller Hoffnung im Sattel auf. Dort vorne lichtete sich der verschneite Wald. Dahinter schien Licht. Sofort trieb Aranarth sein Pferd wieder an und ritt auf das Ende des Waldes zu.


Die Bäume wichen zurück und gaben den Blick auf eine grandiose Aussicht frei. Vor Aranarth lag die Küste, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Steil fielen die Felsen vor ihm zum Meer ab, das grau und wild schäumend sich bis zum Horizont ausbreitete. Die tief stehende Wintersonne verbreitete ein diffuses, graues Licht. Wind peitschte über die Küstenlinie und trieb Böen von Schnee vor sich her.

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt